Interview
Chairside & Praxis
29.09.22
Alleine schafft es keiner!
Mundgesundheit in der Pflege
Informationsplattform, Mundgesundheit, pflegebedürftig
Ältere und auch pflegebedürftige Menschen haben zunehmend eigene Zähne, technisch aufwendigen Zahnersatz oder Implantate im Mund. Die Prothesen nachts raus ins Glas – das war gestern. Heute stehen wir in der Mundpflege vor einer Vielzahl neuer Herausforderungen. Pflegekräfte, pflegende Angehörige oder die Betroffenen selbst brauchen Anleitung und Unterstützung, wenn die Mundpflege bedarfsgerecht und erfolgreich gelingen soll.
In den vergangenen drei Jahren hat eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Pflegeexperten und Zahnärzten unter der Leitung von Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Erika Sirsch und koordiniert vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) an der Hochschule Osnabrück, einen Expertenstandard als abgestimmtes Leistungsniveau für die Förderung der Mundgesundheit in der Pflege entwickelt (www.dnqp.de).
Für die Umsetzung der Mundpflege-Empfehlungen in den verschiedenen Pflegesettings Häuslichkeit, Krankenhaus sowie ambulante und stationäre Langzeitpflege wurde zeitgleich eine internet‧basierte Informations- und Schulungsplattform entwickelt (www.mund-pflege.net).
Initiator der Plattform ist Prof. Dr. Harald Mehlich von der Hochschule Neu-Ulm. Die Plattform soll auf allen digitalen Endgeräten – perspektivisch bei schlechtem Internetempfang auch als App – jederzeit Antworten auf die relevanten Fragen zur Mundgesundheit geben. Insbesondere stehen dabei Maßnahmen bei pflegerischem Unterstützungsbedarf im Vordergrund. Das Plattform-Projekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen: 13FH024SX8). Die Plattform ist seit 1. Juli 2022 online und der Zugang kostenfrei.
Dr. Elmar Ludwig ist Mitinitiator von „mund-pflege.net“. Er ist in Ulm in einer Gemeinschaftspraxis niedergelassen und hat im Jahr 2014 einen Kooperationsvertrag mit einer Einrichtung der stationären Langzeitpflege geschlossen.
Herr Dr. Ludwig, Sie sind federführend an dem Konzept „mund-pflege.net“ beteiligt. Es scheint, dass dieses Projekt ein Herzensanliegen für Sie ist. Was hat Sie dazu bewogen, als Zahnarzt dieses Projekt mit zu initiieren und was erhoffen Sie sich davon?
Dr. Elmar Ludwig: Seit Jahren beobachte ich im Praxisalltag Unsicherheiten der Pflegekräfte im Umgang mit komplexem Zahnersatz und bei der Mundpflege am Waschbecken beziehungsweise am Bett, wenn es um Ergonomie und die Berücksichtigung der Aspirationsgefahr geht. Zudem ist der Blick in die Mundhöhle nicht gut geschult – wie und wohin muss ich eigentlich schauen und was ist bei Auffälligkeiten zu tun? Wann muss ich einen Zahnarzt holen? Die Plattform kann hoffentlich dazu beitragen, Brücken zu bauen und Barrieren zu überwinden. Ich war und bin deshalb Prof. Mehlich sehr dankbar, dass er im Jahr 2019 auf mich zukam und mich fragte, ob ich Lust hätte, bei dem Projekt mitzuwirken.
Wie betreuen Sie momentan geriatrische beziehungsweise pflegebedürftige Patienten mit Unterstützungsbedarf in Ihrer Praxis?
Zum einen betreue ich eine stationäre Pflegeeinrichtung in Ulm über einen Kooperationsvertrag. Zweimal im Jahr besuchen wir anlassunabhängig die Bewohner vor Ort, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Einige kommen dann zu notwendigen Behandlungen in die Praxis, bei anderen erfolgt die Behandlung in der Einrichtung. Zudem gehe ich jede Woche ein- bis zweimal in die Einrichtung und mache kleinere Behandlungen oder kurze Kontrollen, zum Beispiel nach Zahnextraktionen, nach Unterfütterungen oder um Zahnfleischtaschen zu spülen. Über die Jahre hat der stetige Kontakt zu den Pflegekräften auch dazu geführt, dass ich häufiger gerufen werde, um Auffälligkeiten abzuklären. Dies ist für die Bewohner eigentlich der größte Nutzen des Kooperationsvertrags.
In der Praxis betreue ich zudem eine ähnlich große Zahl an Menschen, die noch zu Hause leben, die aber so fit sind, dass der Besuch in der Zahnarztpraxis problemlos möglich ist. Einige Menschen besuche ich auch zu Hause oder ohne Kooperationsvertrag in anderen Pflegeeinrichtungen, zum einen, wenn ich die Menschen noch nicht kenne, entweder um mir selbst zunächst ein Bild zu machen, oder wenn der Aufwand für einen Transport in die Praxis unverhältnismäßig groß ist.
Behandeln Sie auch in den Pflegeeinrichtungen vor Ort und wie erleben Sie die Situation dort?
In den Pflegeeinrichtungen führe ich die Behandlungen meist in den Zimmern der Bewohner — oder unter Berücksichtigung der Privatsphäre — auch mal in Gemeinschaftsräumen durch. Ich nutze dabei keine mobile Behandlungseinheit, sondern lediglich einen mobilen Motor ohne Wasser. Ein eigenes Behandlungszimmer habe ich nicht. So bin ich in der Einrichtung sichtbarer, beanspruche das Pflegepersonal nur soweit unbedingt nötig und halte die Risiken für Komplikationen eher gering.
Grundsätzlich ist es noch ein langer Weg, bis alle Menschen die Unterstützung bei der Mundpflege bekommen, die sie brauchen. Aber die Ressourcen sind ja sehr knapp bemessen und die Verunsicherung ist nach wie vor groß.
An welchen Stellen hakt es in der Pflege am meisten in Bezug auf die orale Gesundheit der pflegebedürftigen Patienten?
Vor allem ist die Mundpflege – wenn es etwas aufwendiger ist – im Gegensatz zu anderen Verrichtungen der täglichen Körperhygiene wie das Waschen oder die Rasur nicht routiniert. Das hat mit der großen Vielfalt im Mund zu tun: Eigene Zähne, verschiedene Verbindungselemente bei herausnehmbarem Zahnersatz oder Implantate. Ältere Pflegekräfte sollen die jüngeren in der Pflege anleiten, haben aber selbst in ihrer Ausbildung nur wenig mehr als die Totalprothese und Schleimhautpflege kennengelernt – was soll man da erwarten? Im Hinblick auf die Fortbildung gibt es für die Pflege bis heute auch noch viel zu wenig Angebote. Dazu kommt die Angst vor Abwehr oder vor Bissverletzungen und nicht zuletzt spielt der Ekel vor Speiseresten, Belägen und Schleim im Mund eine nicht unerhebliche Rolle. Dabei kann Zähneputzen süchtig machen, wenn man weiß, wie es geht!
Wie gestalten Sie die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal vor Ort?
Zunächst einmal komme ich nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Das macht keinen Sinn. Im Gegenteil lobe ich immer, wenn ich gerufen werde und ich nehme mir hier und da Zeit für ein persönliches Gespräch. Das schafft Vertrauen und steigert die Bereitschaft, für die Mundpflege offen zu sein. Zudem haben sich Praxisanleiter-Einheiten, zum Beispiel im Rahmen der Mundgesundheitsaufklärung, sehr bewährt, um das Thema Mundgesundheit in der Pflege beständig weiterzuentwickeln. Hier schule ich ohne Zeitdruck gleichzeitig die langjährig erfahrenen Pflegefachkräfte und die Auszubildenden in der Pflege. Auch vor dem Hintergrund der generalistischen Pflegeausbildung macht dies unbedingt Sinn. Je früher Pflegekräfte im Rahmen ihrer Ausbildung die richtigen Impulse bekommen – egal im welchem Setting sie später tätig sind –, umso eher wird die Mundpflege, wo es nötig ist, unterstützt. Wir Zahnärzte leisten mit dieser Maßnahme einen wertvollen Beitrag zur Mundgesundheit für Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf.
Und hier kommt nun „mund-pflege.net“ ins Spiel. An wen richtet sich die Plattform und wie ist die Website strukturiert …?
Genau – die Plattform soll sich zur gemeinsamen Kommunikationsbasis entwickeln. Egal, ob auf dem PC, am Tablet oder über das Dienst-Smartphone, wenn es eines gibt, – immer wieder soll die Plattform Gelegenheit bieten, das eigene Wissen zur Mundgesundheit zu erweitern.
In erster Linie richtet sich die Plattform an alle professionell Pflegenden, aber auch an Zahnärzte und insgesamt gerne auch an alle Menschen, die mit der Mundpflege unterstützungsbedürftiger Menschen befasst sind.
Die Website ist themenorientiert strukturiert: Anatomie, Zahnärztliche Versorgungen, Auffälligkeiten & Probleme, Pflegemittel & Anwendung, Unterstützung, Ernährung, Allgemeinerkrankungen, Ansprechpartner & Links, Notfallhilfe sowie Aus- & Fortbildung. Mit drei Klicks von der Frage zur Antwort! Wichtig war es uns, die Navigation bildgestützt intuitiv und bei häufiger Anwendung auch über eine Schnellnavigation zu ermöglichen. Eine Suchfunktion erlaubt es zudem, Begriffe direkt abzufragen.
Welche Tools beziehungsweise Lernelemente werden dort eingesetzt?
Der Expertenstandard ist ja eine eher abstrakte Beschreibung des Mundpflegeprozesses. Dort finden sich keine Abbildungen. Auf der Plattform haben wir dagegen sehr viele Abbildungen, zum Beispiel zu verschiedenen Formen von Zahnersatz, zu Auffälligkeiten und Problemen im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich wie auch Videos zu allen möglichen Maßnahmen der Unterstützung bei der Mundpflege implementiert. Die Pflegeszenen werden dabei nach und nach digitalisiert, um die Anschaulichkeit weiter zu steigern. Perspektivisch sollen in der Plattform auch Elemente der Augmented Reality beziehungsweise der Virtual Realitiy aufgenommen werden. Man richtet dann das Smartphone auf einen Bewohner und über das Display wird eine ergonomische Körperhaltung zur Unterstützung der Mundpflege gezeigt, die gleichzeitig die Aspirationsgefahr des unterstützungsbedürftigen Menschen im Blick hat.
Welchen Nutzen bietet das ganz konkret für den Pflegealltag?
Ich verspreche mir von der Plattform, dass Zahnärzte, Pflegekräfte und gerne übrigens auch Ärzte eine gemeinsame Sprache entwickeln und sich alle an einheitlichen und abgestimmten Empfehlungen orientieren können. Das ist in meinen Augen die Voraussetzung für die Förderung der Mundgesundheit in der Pflege.
Und wie können Zahnärzte diese Tools/Lernelemente – für das Praxisteam und das Pflegeteam – für eine bedarfsgerechte Behandlung beziehungsweise Betreuung Pflegebedürftiger einsetzen?
Bis heute empfehlen viele Zahnärzte, Prothesen über Nacht im Mund zu belassen oder Prothesen mit Seife zu reingingen. Diese Ideen sind überholt und entsprechen nicht den Empfehlungen des Expertenstandards. Zudem sind Zahnärzte unsicher, wenn es um die Empfehlungen zur Unterstützung der Mundpflege geht, egal ob am Waschbecken oder erst recht am Bett. Oder wie man mit einer Kompresse den Mund auswischen, aber ebenso auch befeuchten kann, wie bei Demenz die Mundpflege am besten gelingt und wie Abwehr bei der Mundpflege überwunden werden kann. Das alles haben Zahnärzte im Studium und auch die Mitarbeiter in den Zahnarztpraxen in ihrer Ausbildung nicht gelernt. Die Plattform lässt sich übrigens auch ideal direkt für Schulungen der Pflegekräfte oder die individuelle Anleitung beim Menschen mit Unterstützungsbedarf nutzen.
Inwiefern können sich gerade Mehrbehandler-Praxen in das Thema Mundpflege gewinnbringend – für die Praxis aber auch für die Pflegebedürftigen und das Pflegepersonal – einbringen?
Viele Einzelpraxen in Deutschland haben sehr kluge Konzepte für die aufsuchende Betreuung entwickelt. Gerade aber Mehrbehandler-Praxen können die Herausforderungen der Betreuung pflegebedürftiger Menschen besonders gut bewältigen. Die aufsuchende Betreuung erlaubt es, zusätzliche Behandler in die Praxis zu integrieren, ohne dass gleich räumliche Praxiserweiterungen oder eine Ausdehnung der Behandlungszeiten notwendig sind. Man braucht auch nicht gleich zwingend mehr Mitarbeiter. Mehrbehandler-Praxen können zudem Urlaubs- und Krankheitsvertretungen einfacher realisieren. Und nicht zuletzt haben Mehrbehandler-Praxen häufig räumlich mehr Kapazitäten, wenn es darum geht, einen pflegebedürftigen Menschen im Lauf der Behandlung in der Praxis Pausen zu gönnen und nebenher andere kleinere Behandlungen durchzuführen.
Wie könnte im Zuge einer Digitalisierung der Pflege auch die Zusammenarbeit zwischen der Zahnarztpraxis/Praxisteam und der Pflegeeinrichtung/Pflegeteam digitaler gestaltet werden?
Videosprechstunden und Videofallkonferenzen können zwar als telemedizinische Leistungen von Seiten der Zahnärzte heute schon angeboten werden, allerdings ist die stationäre Pflege da noch nicht so weit. Selten stehen Dienst-Smartphones zur Verfügung oder der Internet-Empfang ist schlecht. Die Digitalisierung schreitet jedoch auch in der Pflege stetig voran. In der ambulanten Pflege sind Smartphones für die Tourplanung und Dokumentation schon Standard, aber auch hier hapert es manchmal beim Internetempfang. Andererseits ist die Telematik-Anbindung ab 01.01.2024 in der ambulanten Pflege verpflichtend umzusetzen. Die stationäre Pflege steht ebenfalls schon in den Startlöchern und es ist nur noch eine Frage der Zeit. Insgesamt halten die digitalen Unterstützungsinstrumente breitflächig und bei allen Berufsgruppen im Gesundheitswesen Einzug. Die Telemedizin würde vielleicht auch heute schon in der Zahnmedizin mehr genutzt, wenn zeitversetzte Kommunikation – also Text und Fotoübermittlung – möglich und zudem, wie bei den Ärzten auch, Erst-Einschätzungen über Videosprechstunden, rechtlich zulässig wären.
„mund-pflege.net“ ist nun seit dem 1. Juli 2022 „scharf“ geschaltet. Wie ist die Resonanz?
Die Resonanz in der Pflege ist gewaltig und durchweg positiv. Vor allem die vielen klinischen Bilder und anschaulichen Pflegefilmsequenzen, aber auch die gute und anwenderfreundliche Strukturierung der Themenfelder und die Navigation werden durchweg gelobt. Teilweise hören wir, es sei unübersichtlich. Aber es ist eben komplex und umfangreich. In fünf Minuten kann man die Plattform nicht vollständig erfassen. Es gilt schon heute: Wer regelmäßig auf die Plattform zugreift, findet sich schnell zurecht. Und wir werden die Plattform stetig weiter entwickeln – wir stehen ja erst am Anfang. Dazu haben wir auch eine Feedback-Funktion auf der Plattform eingerichtet. Wer immer möchte, kann uns Ideen, Anregungen, Kritik und gerne auch Lob zukommen lassen. Zudem gibt es einen Newsletter – die Anmeldung ist direkt auf der Startseite ganz problemlos möglich. So ist man immer auf dem Laufenden.
Wissenswert:
- Pflegebedarf auf einen Blick: Pflegebedürftige 2019: 4,1 Mio.
- Pflegequote 2019: Insgesamt: 5,0 %, bei 75- bis 85-Jährigen: 19,6 %, bei über 89-Jährigen: 76,3 %
- Pflegeeinrichtungen 2019: Pflegeheime: 15 380, Ambulante Pflegedienste: 14 688
- Personal 2019: In Pflegeheimen: 796 500, In amb. Pflegediensten: 421 600
Quelle: Destatis 2021
Dr. Elmar Ludwig ist Mitglied der Arbeitsgruppe des Expertenstandards. Als Referent für Alterszahnheilkunde der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg und als stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses Alterszahnmedizin der Bundeszahnärztekammer hat er langjährige standespolitische Erfahrung in der Entwicklung der zahnärztlichen Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf.
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