Fachbericht

Funktionsdiagnostik & CMD

25.10.21

Alles im Griff?

Ein kurzer Abriss der zahnärztlichen Funktionsanalyse

CMD, craniomandibuläre Dysfunktion, Funktionsanalyse, Funktionsdiagnostik

Prof. Dr. Ulrich Lotzmann

01 – Eine sinnvolle instrumentelle Okklusionsanalyse setzt die Montage von formgetreuen Modellen in einer stabilen, physiologischen Kieferrelation voraus.

Die Zielsetzung dieses Beitrags besteht nicht in einer detaillierten Beschreibung der einzelnen Diagnostikverfahren. Vielmehr soll eine Übersicht über die wesentlichen in der CMD-Befundung zur Verfügung stehenden klinischen und instrumentellen Verfahren gegeben werden. Diese zum Teil zeit- und finanziell aufwendigen Analysetechniken können und werden allerdings nicht routinemäßig und stereotyp bei jedem CMD-Patienten angewandt. Vielmehr zeichnet sich der erfahrene Diagnostiker dadurch aus, dass er zwar mit der Palette der Diagnoseverfahren vertraut ist und deren diagnostische Aussagekraft kennt, diese diagnostischen Mittel aber gezielt und dosiert einsetzt. Dazu muss er im individuellen Patientenfall abwägen, ob und welche Analyseverfahren über die Anamnese und die klinische Diagnostik hinaus relevante Erkenntnisse für die Diagnosestellung und Therapieplanung erwarten lassen. Unkenntnis, Unerfahrenheit beziehungsweise eine übertriebene wirtschaftliche Motivation können zu einer teilweise absurden Überdiagnostik ohne therapeutischen Vorteil für den Patienten führen.

Fragen an den Autor
Ist ein Knacken des Kiefergelenks ­therapiebedürftig?

Prof. Dr. Ulrich Lotzmann: Nein, nicht grundsätzlich. Ein Therapiebedarf hängt von der Ursache des Knackens ab. Zudem ist bedeutsam, seit wann das Knacken besteht, wie ausgeprägt das Geräusch ist und ob es zeitweise mit Gelenkschmerzen und Bewegungseinschränkungen des Unterkiefers einhergeht.

Kann jedem CMD-Patienten mit einer okklusalen Therapie geholfen werden?
Okklusale Korrekturen sind bei CMD-Patienten nur dann therapeutisch effektiv, wenn Okklusion und Kieferrelation des Patienten eine wesentliche Rolle in der Krankheitsentstehung spielen. Dies ist nicht zwangsläufig der Fall.

Ätiopathogenese dysfunktionsbedingter Erkrankungen des Kauorgans
Als charakteristische Anzeichen einer dysfunktionellen Erkrankung des cranio­mandibulären Systems (CMD) gelten:
Limitation und Inkoordination der Unterkieferbewegungen,
Ermüdung, Steifheit, Druckempfindlichkeit sowie Ruhe- oder Bewegungsschmerz der Kau- und Nackenmuskulatur,
Reiben und Knacken, Palpationsempfindlichkeit sowie Ruhe- oder Bewegungsschmerz der Kiefergelenke.
Zudem können als Begleitsymptome Spannungskopfschmerz, Nacken- und Rückenschmerzen, neuralgiforme Attacken im Gesichtsbereich, Geschmacks­irritationen, Vertigo, Tinnitus, Hyper-/Hypoakusis, verminderte Visusleistung, gestörte Speichelsekretion, Schluckbeschwerden, Brennen der Mundschleimhaut und Parästhesien wie Kribbeln und Taubsein beobachtet werden.
Im Mittelpunkt der komplexen, multifaktoriellen Ätiopathogenese dysfunktionsbedingter Erkrankungen des Kauorgans (Syn.: Myoarthropathie) steht zumeist die muskuläre Hyperfunktion (Hyperaktivität, Hypertonizität), die in Abhängigkeit von Dauer und Stärke zu strukturellen Veränderungen der belasteten Gewebe führt. Funktionseinschränkungen und Schmerz können die Folge sein. Der Ort der Schmerz­entstehung (Läsion) muss jedoch nicht zwangsläufig mit dem Ort der Schmerzempfindung (referred pain) identisch sein.
Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die eine Hyperfunktion der Kopf- und Nacken­muskulatur auslösen, unterhalten oder verstärken können: Einwirkungen von Stressfaktoren (Kälte, Feuchtigkeit, Wärme, Durst, Hunger, Tod eines Fami­lienangehörigen, Arbeitslosigkeit, Überforderung im Beruf, Einsamkeit), psychische Erkrankungen (Depression), Fehlhaltung und Schäden in der Wirbelsäule, hormonale Faktoren (Schilddrüsendysfunktion), Krankheit, Trauma, propriozeptive Reflexe aus primär erkrankten, über- oder fehlbelastete Kiefergelenken und okklusale Störungen (Graber). Alle für die Entwicklung einer CMD relevanten Faktoren können als Bündel in beliebiger Kombination auftreten, ein Umstand, der die Diagnostik erschweren und eine kausale Therapie im Einzelfall sogar unmöglich machen kann.
Ob im individuellen Patientenfall eine funktionelle Vorbehandlung erforderlich ist oder welcher gegebenenfalls interdisziplinäre Therapieansatz gewählt werden sollte, kann nur mithilfe der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik geklärt werden.

Die zahnärztliche Funktionsdiagnostik strebt dabei nach Beantwortung folgender Fragen:
• Gibt es Hinweise auf eine objektivierbare, die weitere zahnärztliche Planung und Therapie beeinflussende Funktionsstörung?
• In welchen Gewebestrukturen ist das Bewegungshindernis oder/und die schmerzauslösende Läsion lokalisiert?
• Welche Kausalfaktoren sind für die Funktionseinschränkung und/oder den Schmerz wahrscheinlich?
• Ist eine zahnärztliche, gegebenenfalls interdisziplinäre Therapie erfolgversprechend und sinnvoll?

Insbesondere die Ursachenfahndung gehört zu den zentralen Aufgaben der Diagnostik und ist für die Therapiewahl und die prognostische Einschätzung des Therapieverlaufs bedeutsam. Nur in jenen Fällen, in denen die Okklusion für die Pathogenese der dysfunktionsbedingten Erkrankung bedeutsam ist, kann eine kausale zahnärztliche Therapie – mit Veränderung der Okklusion und Veränderung der mandibulo-maxillären Relation – sinnvoll eingesetzt werden. Anderenfalls haben okklusale Maßnahmen bestenfalls palliativen Charakter. Die in der Literatur beschriebenen und in der zahnärztlichen Fortbildung propagierten Verfahren der Funktionsdiagnostik sind vielfältig.

Grundsätzlich können folgende Diagnostikverfahren unterschieden werden:
• Funktioneller Kurzcheck (Schnellscreening)
• Anamnese mit klinischer/manueller Funktionsdiagnostik
• Bildgebende Diagnostik
• Instrumentelle Okklusionsanalyse
• Instrumentelle Funktionsanalyse
• Orthopädische Beurteilung
• andere (zum Beispiel neurologische, internistische, HNO-ärztliche, psychosomatische, schmerztherapeutische Beurteilung)

Bevor der funktionelle Kurzcheck und die klinische Funktionsdiagnostik als das zentrale Element der CMD-Diagnostik näher erläutert werden, sollen zunächst die ergänzenden Analyse-Verfahren kurz skizziert werden.

Bildgebende Diagnostik
Zur Ursachenfahndung bei Schmerzen und anderen Beschwerden wie Gelenkgeräuschen und einer eingeschränkten Unterkieferbeweglichkeit kann nach klinischer Bewertung der gezielte Einsatz bildgebender Verfahren erforderlich sein. Diese Verfahren können vom Zahnfilm, der Orthopantomografie (OPG) über die Dentale Volumentomografie (DVT), Kernspintomografie (MRT), Nasennebenhöhlen-Sonografie bis zur Kiefergelenk-Arthroskopie reichen. Im Rahmen der Eingangsdiagnostik wird man sich allerdings in der Regel zum Ausschluss einer dentalen/parodontalen Genese der Beschwerden auf die Beurteilung von OPG und/oder Zahnfilm-aufnahmen beschränken – und auch dies nur bei Bedarf. Der Einsatz bildgebender Diagnostik ist kein Automatismus und setzt immer eine profunde Anamnese und klinische Untersuchung voraus. Sind bildgebende Verfahren indiziert, ist jene Technik einzusetzen, die bei geringster Invasivität den für den Pa­tienten optimalen diagnostischen Nutzen erwarten lässt.

Instrumentelle Okklusionsanalyse
Die Bewertung der okklusalen Verhältnisse in Statik und Dynamik anhand montierter Modelle oder mithilfe computergestützter Registriermittel (zum Beispiel T-Scan Occlusion Analysis-System, Tekscan) wird als instrumentelle Okklusionsanalyse bezeichnet.
Der Vorteil der Okklusionsanalyse anhand montierter Modelle besteht darin, dass man losgelöst vom Patienten dessen Okklusionsverhältnisse in Statik und Dynamik dokumentieren und beurteilen kann (Abb. 1). Dies umfasst die Lage der Okklusionskontakte, die sagittale, transversale und horizontale Ausformung der Zahnbögen sowie die Lage und das Ausmaß von Schlifffacetten. Mithilfe der Splitcast-Technik oder präziser durch Anwendung zusätzlicher Artikulator-Hilfsgeräte – wie beim SAM-Artikulator der Mandibular-Positions-Indikator – können die Verlagerungsrichtung und das Verlagerungsausmaß der Kondylen aus der registrierten (zentrischen) und montierten Unterkieferposition in die maximale Okklusion dreidimensional dokumentiert und daraus Schlüsse für den Therapieweg gezogen werden.
Ein weiterer Vorteil montierter Modelle besteht in der Möglichkeit, die nach erfolgreichem Abschluss der Vorbehandlung erforderlichen okklusalen Korrekturen durch ein selektives Probe-einschleifen oder/und durch ein Set- oder Wax-up „durchzuspielen“ und so die definitive Therapie verlässlicher zu planen (Abb. 2). Die Okklusionsanalyse anhand montierter Modelle setzt aber als conditio sine qua non voraus, dass
a) formgetreue Modelle mit exakter Wiedergabe der okklusionsrelevanten Zahnareale vorliegen,
b) diese Modelle in ihrer physiologischen (zentrischen) Kieferrelation montiert sind,
c) die Montageachse zumindest annährend der Lage der transversalen Scharnierachse beim Anheben des Unterkiefers aus der Ruhelage in die physiologische Position entspricht sowie
d) die Artikulatorgelenke zumindest mit einem Protrusionscheckbiss individua­lisiert sind (siehe auch Beitrag Heimann & Jahn, ab Seite 52).

Sind vor allem die unter a) und b) aufgestellten Forderungen nicht erfüllt, ist die Darstellung und Bewertung okklusaler Verhältnisse im Artikulator wenig sinnvoll, weil diese nicht der Realität entsprechen. Eine auf fehlerhafter Montage beruhende Planung und Ausführung der definitiven Therapie ist fahrlässig.
Die Qualität der instrumentellen Okklusionsanalyse hängt entscheidend von der Qualität der registrierten zentralen Kieferrelation ab. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es bei einem Patienten mit Schmerzen im Kopf-, Gesichts- oder Nackenbereich aufgrund der damit verbundenen muskulären Dysfunktionen auch unter Nutzung computergestützter Registriertechniken in aller Regel nicht gelingt, die physiologische Kieferrelation zu registrieren. Die unter diesen Bedingungen erfasste Kieferrelation stellt im günstigsten Fall die bestmögliche „Tages- oder Momentanzentrik“ dar. Es ist ein wichtiges Ziel der Vorbehandlung, dass sich durch Normalisierung des Muskeltonus eine physiologische, für den Patienten leicht und reproduzierbar einzunehmende Kieferrelation einstellt. Diese muss nach erfolgreichem Abschluss der funktionellen Vorbehandlung sorgfältig registriert und in den realen oder virtuellen Artikulator übertragen werden. Gelingt dies nicht, sind alle okklusalen Artikulatorbefunde und gegebenenfalls die daraus resultierenden Planungen äußerst fragwürdig.
Die Beurteilung und Dokumentation der Okklusion sowie die Simulation geplanter okklusaler Veränderungen anhand montierter Modelle sind eine wichtige qualitätssichernde Maßnahme, die bevorzugt nach erfolgreicher Vorbehandlung und somit vor der definitiven Therapie durchgeführt werden sollte.
Aufgrund der Problematik einer unsicheren Kieferrelation hat eine instrumentelle Okklusionsanalyse im Rahmen der Eingangsdiagnostik eher Dokumentationscharakter der pathologischen Ausgangssituation. Auch wenn man in dieser Diagnostikphase auf eine Artikulatormontage verzichten möchte, ist es dennoch sinnvoll, formgetreue Situa­tionsmodelle anzufertigen. Diese dienen zur Dokumentation, Bewertung der Zahnstellung sowie zur Ausformung der Zahnbögen und erleichtern das Erkennen von Abrasionsfacetten und somit das „Lesen in der Okklusion“ erheblich.
Belastet man in der maximalen Interkuspidation aufeinandergesetzte Modelle alternierend im Bereich der 3er und 7er, sollten diese nicht schaukeln. Korrekte Modelle vorausgesetzt, weist ein Schaukeln auf eine instabile Okklusion hin. Stehen die Modelle stabil aufeinander, ist dies allerdings kein zwingender Beweis für eine stabile Okklusion.

Instrumentelle Funktionsanalyse
Unter instrumenteller Funktionsanalyse versteht man jede Form der mechanischen oder elektronischen Registrierung von mandibulären Bewegungen und/oder Kaumuskelaktivitäten und deren Bewertung.
Eine einfache Form der instrumentellen Funktionsanalyse stellen das klassische, rein mechanisch arbeitende Stützstiftregistrat oder dessen elektronische, computergestützte Varianten dar. Das sich unter horizontalen Unterkieferbewegungen über einen Stützstift auf einer antagonistischen Schreibplatte abzeichnende Bewegungsmuster sowie Lage und Streuung der Adduktionspunkte beim „Klappern“ können zur Festlegung einer zentralen oder therapeutischen Kieferrelation genutzt werden. Zudem liefert es wertvolle Informationen über die Translationsfähigkeit beider Kondylen sowie über die neuromuskuläre Koordinationsfähigkeit des Patienten.
Dient im Praxisalltag die Stützstiftregistrierung primär zur Kieferrelationsbestimmung, werden Verfahren wie die Achsiografie und andere computerstützte Systeme (zum Beispiel Arcusdigma, JMAnalyzer, Freecorder BlueFox, K7-System) vorwiegend zur Erfassung der Unterkieferbewegungen eingesetzt (Abb. 3). Für ihren Einsatz sind grundsätzlich zwei Indikationen zu unterscheiden:
a) Erfassen der Unterkieferbewegungen zur individuellen Programmierung der Artikulatorgelenke oder eines virtuellen Artikulators (Neigung und Krümmung der Kondylenbahn, Bennett-Winkel und Verlauf der Mediotrusionsspur, Frontzahnführung et cetera).
b) Erfassen der Unterkieferbewegungen (Ausmaß, Spurverlauf, Geschwindigkeit) und bestimmter Unterkieferpositionen zur Kiefergelenkdiagnostik oder zur Dokumentation von Kaumustern.

Sollen auch die zahngeführten Unterkieferbewegungen und -stellungen registriert werden, zwingt dies zur paraokklusalen Fixierung des Registriersystems an den Unterkieferzähnen (Abb. 4). Da hierzu nur die in der maximalen Okklusion nicht abgedeckten labialen und bukkalen Flächen der Unterkieferzähne zur Verfügung stehen, hängt die Qualität der para­okklusalen Fixierung vom Zahnstatus und den frontalen Überbissverhältnissen ab. Paraokklusale Fixierungen, die sich während der Registrierung lockern, aber nicht komplett von den Zähnen lösen, können unbemerkt zu Fehlmessungen führen. Auch sollten vom Anwender Kalibrierung und Messgenauigkeit der einzelnen Registriersysteme kritisch hinterfragt werden. So wäre es auch wünschenswert, wenn Hersteller oder Vertreiber jedes ihrer Registriersysteme mit einem individuellen Messprotokoll ausliefern würden.
Korrekt messend und paraokklusal stabil montiert, erlauben die meisten Systeme den diagnostisch interessanten Vergleich von gleichgerichteten Unterkieferbewegungen mit und ohne Zahnführung. Diskrepanzen im Spurverlauf beider Bewegungsarten können auf eine unerwünschte Dominanz der Okklusion gegenüber den Kiefergelenken hinweisen. Auch können mögliche Verlagerungen des Unterkiefers bei Einnahme der maximalen Okklusion oder anderer Unterkieferpositionen dreidimensional erfasst werden. Diese Messungen können bei der Beantwortung der Frage, ob ein ausreichender Bewegungsraum für die Kondylen besteht, oder die Gelenkräume pathologisch verändert sind, hilfreich sein (siehe hierzu auch den Beitrag von G. Christiansen ab Seite 74).
Neben der Registrierung der Unterkiefermobilität erlauben moderne, auf die Belange der Zahnarztpraxis abgestimmte EMG-Systeme die Dokumentation der Muskelaktivität mithilfe der atraumatischen, nicht invasiven Oberflächen-Elektromyografie. In der Regel beschränkt sich die EMG-Messung auf die Mm. masseteres und die anterioren Anteile der Mm. temporales. Die bei der Muskelfunktion generierten Aktionspotenziale werden erfasst, verstärkt und zur besseren Lesbarkeit weiter elektronisch aufbereitet. Fehlmessungen können allerdings leicht resultieren, wenn die Oberflächen-Elektroden auf beiden Kopfseiten nicht korrekt angebracht worden sind. Verwertbare Vergleichsmessungen an unterschiedlichen Tagen setzen voraus, dass die Elektroden auf dasselbe Hautareal geklebt werden.
Mit der EMG-Diagnostik werden im direkten Seitenvergleich unter anderem Ruhe- sowie maximale Aktivität beim Pressen in unterschiedlichen Unterkieferpositionen wie maximale Okklusion oder maximale Schienen-Interkuspidation erfasst.
Bei allen instrumentellen Verfahren besteht eine Grundforderung an den Anwender darin, dass er mit der Messmethode vertraut ist und sie regelmäßig anwendet. Er muss sowohl die diagnostischen Möglichkeiten als auch die Grenzen der Technologie kennen. Dies setzt voraus, dass er die aufgezeichneten Messdaten oder Bewegungsspuren interpretieren und Artefakte von den tatsächlichen Daten und Spuren unterscheiden kann. Würden Sie einem Kardiologen vertrauten, der ihr EKG nicht lesen und interpretieren kann?

Orthopädische Beurteilung
Funktionelle Wechselwirkungen von Kopf-/Körperhaltung und okklusalen Kontaktverhältnissen sind offensichtlich und können leicht im Selbstversuch nachvollzogen werden. Ein erstes Screening der Kopf- und Körperhaltung sollte daher bereits im Rahmen der klinischen Funktionsanalyse erfolgen. Dies dient prinzipiell der Beantwortung der Frage, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass muskuläre Asymmetrien, Verspannung oder Dolenzen im Kopf-Nacken-Halsbereich auf Fehlstellungen der Wirbelsäule zurückgeführt werden können oder eine Fehlstatik der Wirbelsäule auch durch eine unphysiologische Okklusion unterhalten wird. Klinisch auffällig ist besonders der mögliche Einfluss einer Malokklusion auf die habituelle Kopfhaltung und die Funktion der Halswirbelssäule (HWS) und vice versa. Der stabilisierende oder destabilisierende Einfluss der Okklusion auf die Körperstatik scheint nach kaudal, also in Richtung Brust-, Lendenwirbelsäule und Becken, abzunehmen, kann aber im Einzelfall durchaus relevant sein.
Die einfach durchzuführende Untersuchung der aktiven Beweglichkeit der HWS einschließlich Befragung des Pa­tienten klärt, ob eine freie, schmerz- und geräuschfreie Rotation, Dorsal-, Ventral-, Lateralflexion des Kopfes möglich ist. Besteht ein Verdacht auf Fehlhaltung und -funktion der Wirbelsäule – zum Beispiel Verkrümmung, Blockaden, Hyper­mobilität –, sollte bevorzugt ein Spezialist Kopfhaltung, Schulter- und Beckenstand, Beinlängen und Ausformung der Wirbelsäule (Skoliose, Hohlkreuz) beurteilen, Dieser wird dann bei Bedarf eine weitergehende Diagnostik veranlassen, beispielsweise eine computergestützte 3-D- oder 4-D-Wirbelsäulenvermessung, oder digitale Röntgen-Becken-Übersichtsaufnahme im Stehen zur Diagnostik von reellen oder funktionellen Beinlängendifferenzen. Es sollte von der Einschätzung des Spezialisten abhängig gemacht werden, ob orthopädische Aspekte in der Therapie­planung zu berücksichtigen sind.

Funktioneller Kurzcheck
Ein funktioneller Kurzcheck besteht aus Basisfragen zur Funktion des Kauorgans und einer klinischen Bewertung der Unterkiefer- und Kopfbeweglichkeit hinsichtlich Ausmaß, Schmerzfreiheit und Gelenkgeräuschen (Abb. 5). Zudem werden die Muskelfunktion beim willkürlichen Pressen in maximaler Okklusion sowie das Ausmaß der okklusalen Abrasion unter Berücksichtigung des Patientenalters beurteilt.
Der zeitliche Aufwand für einen Kurzcheck beträgt für den Geübten nur wenige Minuten. Er sollte prinzipiell im Rahmen der Erstbefundung eines Patienten sowie vor anstehenden definitiven, umfangreich in die Okklusion eingreifenden Thera­pien (Füllungen, Prothetik oder KFO-Maßnahmen) durchgeführt werden. Zeigt der Kurzcheck (siehe auch CMD-Kurzbefund von dentaConcept) keine Auffälligkeiten, kann der Patienten als funktionsgesund oder zumindest angepasst im Sinn einer gut kompensierten Dysfunktion eingeschätzt werden. Aus funktioneller Sicht steht dann einer definitiven, in die Okklusion eingreifenden Therapie nichts im Weg, sofern sichergestellt wird, dass die „neue“ Okklusion hinsichtlich Stabilität und Interferenzfreiheit nicht ungünstiger als die „alte“ Okklusion gestaltet wird.
Zeigen sich beim Kurzcheck hingegen Verdachtsmomente für eine ernsthafte Dysfunktion, wird eine weitergehende und damit auch zeitlich und finanziell aufwendigere Diagnostik erforderlich. Erst deren Ergebnis entscheidet, ob und welche funktionelle Vorbehandlung indiziert ist.

Anamnese und klinisch/manuelle Funktionsanalyse
Die Anamnese ist für die Diagnosestellung und Therapieplanung von wesentlicher Bedeutung. Durch die gezielte Befragung des Patienten werden potenziell für seine Krankengeschichte relevante Information zusammengetragen. Die Bedeutung der Anamnese zeigt sich bei erfahrenen Diagnostikern auch darin, dass eine allein aufgrund der Anamnese gestellte Verdachtsdiagnose in der Mehrzahl der Fälle durch die anschließende ­Diagnostik nur noch bestätigt wird.
Vom Patienten ausgefüllte Anamnese­bögen sollten mit ihm gemeinsam durchgesprochen und bei Bedarf durch eine weitere Befragung ergänzt werden. Suggestivfragen sind zu vermeiden. Zudem sollte der Patient aufgefordert werden, alle Beschwerden, unter denen er derzeit leidet, zu beschreiben und diese, falls möglich, in Haupt- und Nebenbeschwerden zu unterteilen. Er soll die Region, in der er den Schmerz wahrnimmt, und gegebenenfalls Areale, in die der Schmerz ausstrahlt, mit der Hand anzeigen. So ist das breitflächige Auflegen der Finger typisch für ein dumpfen, myogenen, oftmals auch ausstrahlenden Schmerz (Abb. 6). Im Rahmen der Anamnese sollten auch die vom Patienten an eine Therapie und den Behandler gestellten Erwartungen erfragt werden.
Da für die Entwicklung einer CMD-Symp­tomatik oft auch psychosomatische Faktoren ursächlich sein können, sollte insbesondere auf Merkmale geachtet werden, die für eine psychische Ursache der beklagten Beschwerden sprechen (Tab. 1). Dazu können spezielle Fragebögen eingesetzt werden, die darauf abzielen, Stressbelastung/-belastbarkeit, Angst, Depressivität, Persönlichkeitsstruktur oder die psychosoziale Situation des Patienten zu beleuchten. Instrumente dazu sind zum Beispiel die Achse-II-Diagnostik des DC-TMD, die ­Depression ­Anxiety Stress Scale (DASS) oder die Graduierung Chronischer Schmerz (GCS) (siehe auch Konsiliarbögen der Fa. dentaConcept). Erfahrungsgemäß ist eine vorwiegend zahnmedizinische Vorgehensweise weniger erfolgreich bei Patienten, die ein Ärzte- oder Zahnärztehopping betreiben, also sehr häufig den Therapeuten wechseln, und bei Patienten, die mit einer klar vorgefassten Meinung hinsichtlich der anzuwendenden Diagnostik und Therapie die Praxis aufsuchen. Patienten mit einem dysfunktionalen chronischen Schmerz bedürfen der Mitbehandlung durch einen Schmerzpsychotherapeuten.

Merkmalorganischnicht organisch
Schmerzlokalisationeindeutig, innerhalb anatomischer Grenzenvage, unklar wechselnd, anatomisch nicht abgrenzbar
Reaktionen des Patientendurch geschilderten Schmerz erklärbarnicht passend
Zeitlicher AblaufPhasen unterschiedlicher Schmerzqualitätoft permanent, aber auch durch mitmenschliche Probleme modulierbar
Beginn der Beschwerdenzum Beispiel Trauma, Infektion, Zahn-, Kieferbehandlungmit Bezug zu biografisch-situativen Ereignissen
Chronologie der Beschwerdentypischuntypisch
Schmerz durch aktive Bewegung modulierbarjanein
Schmerzschilderungdurch organischen Befund erklärbarinadäquate, teils dramatische Schilderung, ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis
Patientenspracheeinfach, klar, nüchtern, aber im Einzelfall auch verzweifelthäufig krampfhaft intellektuell, Ärzte­jargon mit medizinischem Halbwissen
Diagnostik- und Therapiewahldurch den BehandlerVorschlag oder Versuch der Einflussnahme durch den Patienten
Merkmale im Auftreten und in der Reaktion des Patienten, die eine dominante psychische Ursache für die beklagten Beschwerden vermuten lassen. Beachte: Diese Merkmale sind Hinweise, keine Beweise für eine psychische Störung (modifiziert nach R. H. Adler).

Klinisch/manuelle Funktionsanalyse
Vor der Erhebung des eigentlichen zahnärztlichen Funktionsstatus werden am stehenden Patienten habituelle Körper- und Kopfhaltung sowie Gesichtssymmetrie beurteilt. Gibt es Hinweise auf einen Schulter- oder Becken-Schiefstand? Wird der Kopf lateral geneigt oder in einer protrudierten oder einer nach dorsal rotierten Position gehalten? Besteht Verdacht auf ein asymmetrisches Unterkieferwachstum oder eine einseitige Masseterhypertrophie? Ist die Kopfbeweglichkeit eingeschränkt und/oder schmerzhaft?
Aufgrund der funktionellen Abhängigkeit von Kopf-, Körperhaltung und inter­maxillärer Relation sollten Befunde, die auf ein orthopädisches Problem hindeuten, von einem Spezialisten weiter abgeklärt werden, dies auch zur Einschätzung, ob und welcher interdiszipliniäre Therapieansatz Erfolg verspricht.
Mit dem klinischen Teil des eigentlichen zahnärztlichen Funktionsstatus werden die Untersuchungsbefunde für folgende Teilbereiche des Kauorgans dokumentiert:

  1. Kiefergelenke hinsichtlich Ruhe- und Bewegungsschmerz, Druckdolenzen und/oder Bewegungsgeräuschen
  2. Kaumuskulatur und Kauhilfsmuskulatur hinsichtlich Ruhe- und Bewegungschmerz, Druckdolenzen, Muskelmasse, Symmetrie
  3. Unterkiefermobilität hinsichtlich Ausmaß und Verlauf
  4. Okklusion hinsichtlich Ausformung, Vertikaldimension, Stützzonen, anterioren Überbissverhältnissen, Schliff­facetten, Interferenzen bei statischer und dynamischer Okklusion

Kiefergelenke
Zur Untersuchung der Kiefergelenke dienen Palpation, spezielle Manipulationstechniken und bei Bedarf die Auskultation, das heißt das Abhorchen von Gelenkgeräuschen mithilfe eines membranfreien Stethoskops.

Gelenkschmerz
Die Kiefergelenke werden zunächst mit dem Zeigefinger im Bereich des lateralen Kondylenpols und anschließend von dorsal mit dem kleinen Finger über den äußeren Gehörgang nach ventrokaudal palpiert. Druckdolenzen deuten auf eine Irritation der lateralen Gelenkkapsel und/oder der bilaminären Zone hin. Werden bei Unterkieferbewegung Schmerzen unabhängig von der Bewegungsrichtung ausgelöst oder verstärkt, ist vermutlich die gesamte Gelenkkapsel irritiert.
Der weitergehenden Diagnostik dienen spezielle Manipulationstechniken, mit denen unter gezielter Druckapplikation auf den Unterkiefer die Gewebestrukturen des Kiefergelenks sukzessive in alle Raumrichtungen (dorsal, kranial, ventrokranial, kaudal, lateral und medial) auf Schmerzfreiheit hin untersucht werden (Abb. 7 und 8). Dabei sollten allerdings zum Schutz der Gelenkstrukturen keine exzessiven Kräfte angewandt werden.
Wird bei einer bestimmten Belastungsrichtung Schmerz ausgelöst, lässt dies den traumatisierenden Belastungsvektor vermuten. Aus zahnärztlich-therapeutischer Sicht ist es im Weiteren besonders interessant, ob dieser Belastungsvektor mit dem okklusalen Kontakt- und Abrasionsmuster der Zähne korreliert. Besteht der Verdacht, sollte man einen Provoka­tionstest durchführen. Dazu verlagert der Patient seinen Unterkiefer unter Einnahme kongruenter Attritionsflächen in die verdächtige Unterkieferposition (Abb. 9). Das Auslösen oder Verstärken der beklagten Beschwerden ist ein weiterer Hinweis, dass die traumatisierenden Bewegungen unter Zahnkontakt ausgeführt werden.

Gelenkgeräusche
Die relevanten, in der Unterkieferbewegung auftretenden Geräusche sind das Knacken und das Reiben (Krepitus). Ausgeprägte Geräusche können nicht nur auskultiert, sondern auch mit den Fingerkuppen ertastet werden.
Die häufigste, aber damit auch nicht die alleinige Ursache für ein Gelenkknacken ist die anteriore Diskusverlagerung mit Reposition. Charakteristisch ist ein Öffnungs- und Schließungsknacken, das sich unter ventrokranialer Belastung des Gelenks verändert. So wird das Öffnungsknacken unter Belastung lauter und tritt im Bewegungsablauf später auf, oder das Knacken bleibt aus und das Öffnen des Unterkiefers ist erschwert.
Spezielle Manipulationstechniken dienen auch dazu, eine partielle anteriore Diskusverlagerung von einer totalen anterioren Verlagerung zu differenzieren, und können zudem helfen, die biomechanische Qualität des Diskus, das heißt konkret die Ausformung des posterioren Bands, einzuschätzen.
Reiben in der Unterkieferbewegung, dass in ausgeprägter Form sogar ohne Hilfsmittel gehört und mit den Fingern als Vibrieren des Unterkiefers wahrgenommen werden kann, ist der klinische Hinweis auf eine Osteoarthrose oder in Verbindung mit Gelenkschmerzen auf eine Osteoarthritis.
Eine Arthrose geht immer mit Erschöpfung der Gelenkspalten und ventrokran­ialer Kompression der Gelenkstrukturen einher.

Kaumuskulatur/-hilfsmuskulatur
Die Untersuchung der Kaumuskulatur und der Kauhilfsmuskulatur erfolgt durch Palpation und isometrische Tests. Unter Kauhilfsmuskulatur versteht man die Nacken-, Hals-, Mundboden- und mimische Muskulatur, die die eigentlichen Kaumuskeln in ihrer Funktion unterstützt.
Mit der Palpation werden die oberflächlich liegenden Muskeln jeweils beidseits Quadratzentimeter für Quadratzentimeter mit den Fingerkuppen der Mittelfinger unter zirkelnden Bewegungen und steigender Druckapplikation gegen die knöcherne Unterlage auf Dolenzen hin untersucht. Die maximal eingesetzte Kraft sollte dabei 8 N nicht übersteigen. Der Muskelbauch des M. sternocleidomastoideus erfolgt bidigital, das heißt der Muskel wird mit Mittelfinger und Daumen gefasst und belastet.
Der Musculus pterygoideus lateralis ist einer direkten Palpation nicht ausreichend zugänglich und wird daher bevorzugt mithilfe eines isometrischen Tests untersucht. Dazu legt der Untersucher seinen Handballen flächig an die rechte oder linke Unterkieferseite und fordert den Patienten auf, die Hand mit seinem Unterkiefer zur Seite zu drücken (Abb. 10). Dabei bemüht sich der Untersucher, den Unterkiefer in der Ausgangsposition zu halten. Dieses gegenseitige Kräftespiel führt bei dem Patienten zu einer isometrischen Kontraktion des kontralateralen M. lateralis, ohne dass sich der Muskel dabei nennenswert verkürzen kann, daher resultiert die Bezeichnung „isometrischer Test“. Der Untersucher bewertet im Seitenvergleich, ob die getesteten Muskeln schmerzfrei Kraft aufbauen und für Sekunden halten können.
Das Pressen in maximaler Okklusion ist ein isometrischer Test für die Elevatoren, also alle Kaumuskeln, die beim Anheben des Unterkiefers beteiligt sind (Masseter, Temporalis, Pterygoideus medialis). Mit Einnahme der Okklusion können sich die Elevatoren trotz weiterer Kontrak­tion nicht weiter verkürzen und erfahren so eine isometrische Kontraktion. Dabei prüft der Untersucher mit gleichzeitigem Betasten beider Masseteren, ob die Kaumuskulatur schmerzfrei bilateral Kraft aufbauen und halten kann. Nimmt der Patient Missempfindungen oder Schmerzen wahr, soll er mit dem Zeigefinger das entsprechende Areal umschreiben. Das Schmerzareal kann durchaus im Kiefergelenkbereich liegen und spricht dann für eine Gelenkentzündung.
Von besonderer diagnostischer Bedeutung ist die Untersuchung des profunden Anteils des M. masseter. Circa 2 cm anterior des lateralen Kondylenpols und direkt kaudal des Jochbogens kann man eine kleine Einziehung ertasten (Abb. 11). Unter Druckapplikation kann dort die Pars profunda des Masseter direkt palpiert werden. Dieser Anteil des Masseter ist insbesondere bei der Retrusion des Unterkiefers aus seiner zentralen Position nach dorsal aktiv. Schmerzen in diesem Areal deuten auf eine übermäßige retrusive Aktivität (Parafunktionen, okklusale Zwangsführung) hin. Daraus resultiert auch ein für die Kiefergelenke ungünstiger Belastungsvektor.
Schmerzen in der Pars profunda werden oftmals mit arthrogenen Beschwerden verwechselt, und das kann zu einem fehlerhaften Therapieansatz führen.
Ein weiterer, einfach durchzuführender Test überprüft das Aktivierungsverhalten der Kaumuskulatur beim Schließen in maximaler Okklusion. Dazu steht der Untersucher hinter dem sitzenden Patienten und legt beidseits und drucklos seine Fingerkuppen auf dessen Wangenbereich. Der Patient hebt nun den Unterkiefer nahezu kraftlos bis zum ersten Zahnkontakt an, um dann wiederholt mit langsam steigender Kraft in die maximale Okklusion zu schließen. Dabei achtet der Untersucher darauf, ob beide Mm. masseteres simultan oder zeitversetzt kontrahieren. Ein deutlich mit den Fingerkuppen spürbarer Zeitversatz der Muskelaktivierung deutet auf eine Imbalance von Muskelkontraktion und Okklusion hin.

Unterkiefermobiliät
Dokumentiert wird im Front- und Prämolarenbereich ausgehend von der maximalen Okklusion die maximale Rotations- und Translationskapazität des Unterkiefers und damit der Kondylen in den Grundbewegungen „Öffnung, Laterotrusion rechts und links, Protrusion und Retrusion“.
Zur Erfassung der maximalen Mundöffnung wird die Distanz von der Inzisalkante eines oberen zentralen Frontzahns zur Inzisalkante des antagonistischen Unterkiefer-Frontzahns gemessen. Der Abstand bei maximaler Mundöffnung wird als Schneidekantendistanz (SKD) bezeichnet. Um auf die tatsächliche maximale Mundöffnung schließen zu können, muss die SKD um den vertikalen Überbiss in maximaler Okklusion korrigiert werden. Beträgt zum Beispiel die SKD 38 mm bei einem Überbiss von 8 mm, beträgt die reale maximale Öffnungsamplitude 46 mm. Läge hingegen ein offener Biss von 8 mm vor, betrüge die tatsächliche Mundöffnung nur 30 mm. Bei der Erfassung der maximal möglichen Unterkieferbewegung werden grundsätzlich aktive von passiven Bewegungen unterschieden. Aktive Bewegungen sind Bewegungen, die der Patient allein ohne zusätzliche Unterstützung ausführt. Passive oder passiv weitergeführte Bewegung sind hingegen Bewegungen, die vom Untersucher ausgeführt oder zusätzlich manipuliert werden. Unter physiologischen Bedingungen sollte eine passiv unterstütze maximale Mundöffnung aufgrund der Elastizität der Gewebe 2 bis 3 mm größer als die aktive Mundöffnung ausfallen.
Bei der maximalen Laterotrusion wird der Versatz des Inzisalpunkts zur Mittellinie gemessen. Zur Bestimmung der maximalen Protrusion wird hingegen der Versatz der Labialflächen eines zentralen Unterkiefer-Frontzahns gegenüber den Labialflächen des antagonistischen Oberkiefer-Frontzahns bestimmt. Um die tatsächliche Protrusion zu dokumentieren, ist der horizontale Überbiss in maximaler Okklusion zu berücksichtigen. Die retrusive Bewegungskapazität wird im Bereich der ersten Prämolaren ermittelt.
Der Übergang von physiologischen zu pathologischen Messwerten ist fließend. Alter, Körpergröße, Bezahnung, Dauer und Entwicklung bestehender Beschwerden sind in die Bewertung einzubeziehend. Problematisch sind Mundöffnungswerte von < 30 mm, Laterotrusions- und Protrusionswerte von < 5  mm sowie Retrusionswerte von 0 mm und > 3   mm. Gerade Patienten mit einem tiefen Biss oder Deckbiss können oftmals keine freien Protrusions- und Laterotrusionsbewegungen ausführen. Dann kann das Schließen gegen einen parallel zur Okklusionsebene gehaltenen Holzspatel helfen. Der Patient ist unter dieser biomechanisch stabilen Abstützung in der Lage, auf dem Spatel frei zu gleiten.
Ist die Beweglichkeit eingeschränkt, muss das Hindernis lokalisiert werden. Im günstigsten Fall ist die Limitation neuromuskulär bedingt, das heißt anatomisch gesehen ist zwar die Voraussetzung für eine normale Mobilität gegeben, aber zum Schutz fehlbelasteter Strukturen oder der Zähne werden bestimmte Bewegungen „ausgeblendet“. So können Patienten mit einem Deckbiss oft zum Schutz der Frontzähne willkürlich keine weiten Laterotrusions- oder Protrusionsbewegungen ausführen. Im ungünstigsten, aber seltenen Fall ist es ein raumfordernder Knochentumor, der die Anatomie des Kiefergelenks zerstört.
Bei der Mobilitätstestung geht es nicht nur um das Fahnden nach möglichen Bewegungshindernissen, sondern auch darum, eine kondyläre Hypermobilität zu erkennen. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass eine oder beide Kondylen in der Endphase der maximalen Mundöffnung weit vor das Tuberculum articulare des Os temporale gleiten. Unter Kontraktion der Elevatoren können dann die Kondylen in dieser Extremstellung fixiert werden (Kieferluxation), was für den Patienten das Schließen des Munds unmöglich macht (Kiefersperre). Auch wenn keine CMD-Symptomatik besteht, sollten bei Patienten mit ein- oder beidseitiger kondylärer Hypermobilität zeitlich ausgedehnte Behandlungen bei weiter Mundöffnung vermieden werden, um einer Kiefersperre vorzubeugen.
Abschließend wird in der frontalen Aufsicht das Bewegungsmuster des Unterkiefers beim Öffnen und Schließen beurteilt. Wahlweise für den oft nicht einsehbaren Inzisalpunkt kann ein Punkt an der Kinnbasis markiert werden. Auch hilft ein im Approximalbereich der zentralen unteren Frontzähne atraumatisch platzierter Zahnstocher, der als eine Art Referenzmarker über die untere Lippe nach vorne zeigt. Geradlinige, in der Medianebene verlaufende Spuren weisen auf eine gute neuromuskuläre Koordination der Protraktoren hin. In der Mehrzahl der Fälle wird man allerdings S-förmige Bewegungsspuren feststellen. Das Abweichen und anschließende Zurückkehren des Unterkiefers in einer Bewegungsrichtung wird als Deviation bezeichnet. Diese kann allein durch eine beidseits unterschiedliche Kiefergelenkanatomie verursacht sein und ist für sich genommen kein Hinweis auf eine Pathologie. Weicht hingegen der Unterkiefer bei einer eingeschränkten Öffnung eindeutig zu einer Seite ab, handelt es sich um eine Deflexion. Die Ursache dafür liegt auf der Kopfseite, zu der der Unterkiefer abweicht, und sollte in jedem Fall geklärt werden.

Okklusion
Bei der Bewertung der Vertikaldimen­sion in Ruhelage und maximaler Okklusion werden der interokklusale Abstand zwischen beiden Unterkieferpositionen sowie die Entwicklung beziehungsweise Veränderung des Lippen- und Kinnprofils beim Schließen beurteilt.

Mit der klinischen Untersuchung der Zähne soll geklärt werden, ob:
a) die mit einer CMD einhergehende Hyperaktivität der Kaumuskulatur möglicherweise zu belastungsbedingten Veränderungen an den Zähnen geführt hat. Zu diesen Veränderungen zählen exzessive, nicht altersentsprechende Attritionen und Abfraktionen sowie Zahnwanderungen und -lockerungen;
b) diese Veränderungen auf okklusale Parafunktionen und Belastungsvektoren hinweisen, die die Traumatisierung der schmerzhaften Gewebestrukturen erklären könnten. So lassen zum Beispiel Attritionsfacetten auf den Palatinalflächen oberer Frontzähne in Verbindung mit einer zu schwachen okklusalen Abstützung im posterioren Seitenzahnbereich auf eine nach dorsal oder dorsokranial gerichtete Belastung der Kiefergelenke schließen.

Okklusale Vorkontakte insbesondere im Frontzahnbereich können gerade beim Schmerzpatienten aufgrund der schmerzbedingten Schonhaltung des Unterkiefers die Folge und nicht die Ursache der veränderten Unterkieferposition sein. Verdächtig sind dann insbesondere Vorkontakte, die auf Zahnflächen ohne Schlifffacetten liegen oder wenn sich der Unterkiefer exzentrisch versetzt auf horizontalen Schlifffacetten der Frontzähne abstützt.
Die Qualität der okklusalen Abstützung wird mit dünner Okklusions- oder Shimstockfolie in folgenden Unterkieferpositionen überprüft (Abb. 12):

  1. Muskuläre Kontaktpositionen (MKP). Dabei handelt es sich um jene okklusale Unterkieferposition, die sich unter gerader Kopfhaltung beim nahezu kraftlosen Anheben des Unterkiefers aus der Ruhelage ergibt.
  2. Kraftlos und unter Pressen eingenommene maximale Okklusion

Hinweise auf eine instabile Okklusion mit Vorkontakten und einem Abgleiten des Unterkiefers gibt der Okklusionschall, wie er beim schnellen Klappern mit den Zähnen entsteht. Das mit dem Auftreffen der Zähne entstehende Geräusch ist dann nicht klar und hell, sondern dumpf, langgezogen und kann mehrere Geräuschspitzen aufweisen.
Ein klarer, scharfer Okklusionsschall deutet zwar auf eine eindeutige, vom Patienten gut zu reproduzierende Okklusions­stellung hin, ist aber kein Beweis für eine ausreichende posteriore Abstützung der Zähne.
Empfehlenswert ist die Anfertigung von Okklusogrammen in den diagnostisch relevanten Unterkieferpositionen mithilfe eines schnell härtenden Registriersilikons (zum Beispiel Regisil, Dentsply Sirona, oder Futar D fast, Kettenbach). Betrachtet und vergleicht man die Registrate im Gegenlicht, vermittelt das einen guten Eindruck der dreidimensionalen positionsabhängigen Verteilung der Kontakte (Abb. 13). Zudem dienen diese Registrate auch zur Dokumentation und können hilfreich im Patientenaufklärungsgespräch verwendet werden.
Nach der Überprüfung der statischen Okklusion wird der Typ der exzentrischen Okklusionsführung des Patienten bestimmt (Front-, Eckzahnführung, unilaterale Gruppenführung, Mischformen) und nach exzentrischen Störkontakten wie Hyperbalancen gefahndet (Abb. 14).
Von diagnostischem Interesse sind Lage und räumliche Ausrichtung möglicher Schlifffacetten (Abb. 15). Liegen formgetreue Modelle mit feingezeichneter Oberfläche vor, sollte dieser Diagnoseschritt bevorzugt am Modell erfolgen.
Nach Befunderhebung besteht die eigentliche intellektuelle Leistung des Diagnostikers darin, die Symptome und Einzelbefunde zu werten, im Bedarfsfall weitere ergänzende Analyseverfahren einzusetzen, um dann schließlich eine Verdachtsdiagnose und gegebenenfalls Differentialdiagnosen zu stellen. Die Dia­gnoseformulierung sollte die wesentlich betroffenen Gewebe berücksichtigen, zum Beispiel anteriore Diskusverlagerung mit instabiler Reposition. Diagnosen wie CMD, Myopathie, Myalgie, Arthropathie, Arthralgie haben eher einen allgemeinen, überschreibenden Charakter. Soll bevorzugt ein kausaler Therapieansatz gewählt werden, setzt dies voraus, dass es mit der Funktionsdiagnostik zuvor gelungen ist, potenziell für die Entwicklung der CMD relevante Faktoren zu ermitteln. So ist eine okklusale Vorbehandlung nur indiziert, wenn nach der Diagnostik der Verdacht besteht, dass
a) okklusale Störungen und/oder eine Fehllage des Unterkiefers für die CMD ätiopathogenetisch bedeutsam sind,
b) die Zähne vor einer weiteren Überbelastung geschützt werden müssen.

Funktionsdiagnostik
Computergestützte Funktionsdiagnostik wie CMDfact 4.10, CMDtrace, Arztbrief-Assistent CMD (alle dentaConcept) führen den Untersucher systematisch durch die einzelnen Anamnese- und Diagnostikschritte. Dies dient auch der Qualitätssicherung und komfortablen Dokumentation der Befunde und erleichtert das Verfassen von Arztbriefen. Allerdings muss der Untersucher auch bei Anwendung dieser digitalen Hilfsmittel weiterhin selbst über die diagnostischen Kompetenzen verfügen. Com­puter­gestützte Systeme können bestenfalls Vorschläge für Diagnosen und Therapiewege machen. Letztlich verbleibt auch aus forensischer Sicht die Verantwortung für die Diagnosestellung und Therapie beim jeweiligen Behandler.

Funktionsprophylaxe
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Kenntnisse und Erfahrungen in der Diagnostik und Therapie craniomandibulärer Dysfunktionen nicht nur zu einer erfolgreichen Behandlung von Schmerzen und Bewegungseinschränkungen des Kauorgans erforderlich sind, sondern dem Behandler im Praxisalltag auch helfen, dem Entstehen von CMD-­Erkrankungen vorzubeugen. Dies geschieht mittels einer hinsichtlich der Funktion präventiven Behandlungsweise und hilft, einen „Titanic-Effekt“ zu verhindern.
­
Wesentliche funktionsprophylaktische Aspekte sind dann erfüllt, wenn der Patient
a) bei aufrechter Körper- und gerader Kopfhaltung seinen Unterkiefer unter wiederholtem, nahezu kraftlosem Anheben aus der Ruhelage in eine beidseits stabile, gleitfreie Seitenzahnokklusion schließen kann und
b) bei kraftvollen zahngeführten Unterkieferbewegungen keine okklusalen Störungen im Seitenzahnbereich insbesondere auf der Mediotrusionsseite, aufweist.

Literatur beim Verfasser

AnwendungProduktnameFirma
Computergestützte FunktionsdiagnostikCMDfact 4.10
CMDtrace
Arztbrief-Assistent CMD
dentaConcept
Fragebogen CMD-SymptomatikdentaConcept-KonsiliarbögendentaConcept
Kieferrelationsbestimmung/VerfahrenArcusdigma
JMAnalyzer
Freecorder BlueFox
K7-System
KaVo
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Okklusionsanalyse/computergest. RegistrierungT-Scan Occlusion Analysis SystemTekscan
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