Interview
Hochschule & Standpunkte
23.02.22
Bereit für Data-Dentistry?
Künstliche Intelligenz (KI) in der Zahnmedizin
Applikationen, digitale Kompetenz, künstliche Intelligenz (KI), Qualitätsstandards, Zahnmedizin
KI-Applikationen finden heute schon breite Anwendung in der Medizin und könnten auch in der Zahnmedizin eingesetzt werden. Prof. Dr. Falk Schwendicke ist „Mr. Big Data“ der Zahnmedizin. Der Zahnarzt leitet eine eigene Klinik mit dem Schwerpunkt „Datenzahnmedizin“, von seiner Expertise profitieren Zahnmediziner bereits jetzt. Im Gespräch mit teamwork erläutert der KI-Experte, welche Applikationen im zahnmedizinischen Praxisalltag künftig vorstellbar sind und wieviel digitale Kompetenz diese künftig vom Zahnarzt erfordern werden.
Herr Prof. Schwendicke, alle reden von Big Data. Es stehen riesige Mengen von (Gesundheits-)Daten zur Verfügung, die genutzt werden wollen. Woher kommen diese Daten und wie nutzen Sie diese für Ihre zahnmedizinische Forschungsarbeit?
Auch in der Zahnmedizin verfügen wir über eine große Menge an Daten, denn wir sind ein sehr datenreicher Fachbereich; das ist vielen Kollegen gar nicht so bewusst. Wir Zahnärzte genießen den Vorteil, dass wir unsere Patienten sehr regelmäßig sehen – rund 70 Prozent kommen fast einmal im Jahr in die Zahnarztpraxis. Und die meisten Patienten tun das über Jahrzehnte, in deren Verlauf wir viele klinische, anamnestische und historische Daten – wie Abrechnungs- und Bilddaten – erheben und dokumentieren. Aus datenwissenschaftlicher Sicht ist das sehr spannend, da diese Daten vom selben Patienten über einen relativ langen Zeitraum – und bei einer Vielzahl von Menschen – gesammelt wurden. Darauf gründet unser Datenschatz, den wir in vielfacher Hinsicht und in zahlreichen Anwendungen nutzen können.
Wie funktioniert KI ganz allgemein?
KI ist ein Überbegriff für alles, was Maschinen tun, wenn sie Aufgaben lösen, die sonst menschliche Intelligenz erfordern würden. Dazu zählen zum Beispiel Tätigkeiten wie reagieren, sprechen, hören, lernen und autonom agieren. Die am häufigsten genutzte Technik ist das „maschinelle Lernen“, der in der Medizin am häufigsten angewandte Typ des Lernens ist das sogenannte überwachte Lernen. Dabei lernen Maschinen an großen Datenmengen und zugehöriger Information – man könnte auch von Antworten sprechen –, welche Regeln sich im Datensatz befinden.
Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Nehmen wir einmal an, wir haben einen großen Bilddatensatz mit Kariesläsionen auf Röntgenbildern. Und wir stellen zusätzlich die Information bereit, an welchem Zahn sich die Karies befindet. Damit ist die Maschine in der Lage zu lernen, wie Karies aussieht. Irgendwann ist die Maschine darin so gut, dass sie Karies auch an Bildern erkennen kann, die sie nie zuvor gesehen hat.
Wo wird KI im Gesundheitswesen bereits angewendet?
CAD/CAM, Bild- und Sprachanalytik sind die drei praxisrelevanten Themen. CAD/CAM ist in der zahnmedizinischen Praxis bereits etabliert und funktioniert mit KI-Unterstützung CAD/CAM-basiert auf der Analyse von Scanbildern; auch die Simulation und das Schleifen von Werkstoffen läuft KI-basiert.
Noch relativ neu, aber auch schon in den Praxen eingezogen, ist die KI-basierte Bildanalyse, insbesondere die Röntgenbildanalyse. Das wird in naher Zukunft durch Fotobildanalytik und automatisierte Sprachverarbeitung komplettiert werden. Hiermit ließe sich beispielsweise auch sprachbasiert befunden und dokumentieren.
Wo sehen Sie das Potenzial von KI in der Zahnmedizin?
Neben der Datenanalyse, die uns (Zahn-)Ärzte heute schon unterstützt, beispielsweise viel schneller und präziser befunden zu können, wird KI uns zukünftig helfen zu verstehen, welche „Trajektorie“ unsere Patienten nehmen, weil wir Patienteninformationen zusammenführen und besser analysieren. Damit wird es uns unter anderem gelingen vorherzusagen, welcher Zahn am Ende über die Jahre nicht erhaltungsfähig sein wird, an welchem Zahn eine Karies entstehen wird oder welcher Patient zu Parodontitis neigt – und das mit einer deutlich höheren Genauigkeit als wir das bisher mit unseren, eher simplen, Risikoanalysetools vorhersagen können. Eine solche individualisierte Zahnmedizin ist das, wovon wir uns viel versprechen. Diese Art von personalisierter Medizin wird bereits sehr erfolgreich in der Onkologie angewandt, zum Beispiel in der Antikörpertherapie. Dort wird der Tumor analysiert und dann eine spezifische, mit wenig Nebenwirkungen behaftete, Antikörpertherapie für den Patienten hergestellt. Da personalisierte Therapie jedoch sehr teuer ist, wird es vermutlich noch einige Jahre dauern, bis Personalisierung auch in der zahnmedizinischen Therapie eine Option darstellt.
Es wird viel über die Überlegenheit KI-basierter Anwendungen gesprochen. In welchen Bereichen wird der Zahnarzt weiterhin der KI überlegen sein beziehungsweise in welchen Bereichen der Zahnmedizin macht KI wenig Sinn?
Es gibt durchaus Bereiche, in denen ich langfristig weiterhin den Zahnarzt ohne KI-Unterstützung sehe, zum Beispiel in der restaurativen Therapie. Ich sehe auch in der Zahnmedizin langfristig nicht die Anwendung von Robotik, die ja auch KI-unterstützt ist. Zwar gibt es bereits Ansätze und Pilotstudien, bei denen KI auch für Operationen genutzt wird – insbesondere in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – dort sind Aufwand und Kosten auch gerechtfertigt. Bei einer Einzelzahnimplantation muss man jedoch kritisch hinterfragen, ob diese Therapiemaßnahme – angesichts der hohen Kosten – heute schon robotergesteuert durchgeführt werden muss; dasselbe gilt für das Legen einer zweiflächigen Füllung. Hier stehen Kosten und Nutzen in keinem Verhältnis und diese Therapieformen werden deshalb sicherlich weiterhin vom Zahnarzt ohne Roboterunterstützung durchgeführt.
Worauf fokussieren Sie in Ihrer KI-Forschung?
Der Schwerpunkt meiner Forschungsarbeit liegt auf der Diagnostik und der Therapieplanung. Das hat zum einen damit zu tun, dass ich eine diagnostisch ausgerichtete Abteilung an der Charité leite und wird zum anderen dadurch angetrieben, dass es gerade in diesem Bereich noch wenig Forschung gibt. In anderen zahnmedizinischen Bereichen hingegen, gerade wenn es um den digitalen Workflow und CAD/CAM-gestützt gefertigte Restaurationen geht, wurden bereits viele Fortschritte erzielt. In der Diagnostik hingegen ist in der umfassenden Bewertung von KI-Therapie sowie deren Anwendung noch viel Forschungsarbeit vonnöten. Wir wissen heute zum Beispiel oft nicht, wie kostenwirksam, robust oder generalisierbar eine KI-Anwendung überhaupt ist. Deshalb müssen wir KI-Anwendungen zunächst besser verstehen lernen, um am Ende sagen zu können: „KI in der Zahnmedizin ist evidenzbasiert und erfüllt unsere hohen Qualitätsstandards.“
Hohe Qualitätsstandards könnten auch dadurch schon erfüllt werden, indem die vielen gesammelten Daten KI-basiert zu klaren Handlungsempfehlungen formuliert werden. Wird KI zukünftig, zum Beispiel dem implantierenden Zahnarzt, konkrete Empfehlungen hinsichtlich des zu inserierenden Implantats im Hinblick auf Oberfläche und Form oder des Bohrprotokolls oder der prothetischen Versorgungsform machen können?
KI wird sicherlich auch dazu dienen, Behandlungsvorschläge zu machen beziehungsweise dem Zahnarzt zumindest Optionen zu liefern, möglicherweise sogar leitlinienbasiert. Das wird den Zahnarzt unterstützen, evidenzbasiert zu behandeln. Vorstellbar ist folgendes Szenario: Es liegt eine spezifische Situation vor, der Zahnarzt analysiert mithilfe von KI die Patientendaten und schaut sich KI-unterstützt das DVT an, vermisst die Situation dreidimensional und bekommt automatisiert die Empfehlung für mögliche literaturbasierte Behandlungsprotokolle inklusive Implantatoptionen – und falls gewünscht wird passend dazu die Bohrschablone gedruckt. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es sogar noch über diesen Punkt hinausgeht, indem der Zahnarzt nach dem CAD-Entwurf eine Brille aufsetzt und über Augmented Reality während der Implantation in den Knochen simulierend hineinschauen kann. Das ist zwar noch Zukunftsmusik, aber eine sehr spannende Option. In der Medizin gibt es bereits erste Anwendungen, Therapie durch Augmented Reality zu unterstützen.
Inwiefern wird KI das Berufsbild des Zahnmediziners verändern und wieviel digitale Kompetenz erfordert das zukünftig vom Zahnarzt?
Ich sehe bereits jetzt Veränderungen im Berufsbild, zum Beispiel bei der Röntgendiagnostik. Schon heute ist derjenige Kollege, der Röntgenbilder KI-unterstützt befundet, im Hinblick auf Geschwindigkeit und Präzision im Vorteil. Zukünftig wird es möglich sein, den gesamten Behandlungsablauf digital abzubilden. Ich glaube jedoch nicht, dass wir in naher Zukunft schon roboter- oder Augmented-reality-unterstützt arbeiten werden. Wichtig ist es, offen für Neues zu sein, was in der Kollegenschaft ja gegeben ist, denn die Zahnmedizin ist ja ein sehr technikaffiner Bereich – Zahnärzte haben ja ihre Praxen schon intensiv digitalisiert. Für Zahnärzte wird es immer wichtiger, all diese Technologien bewerten zu können. Deshalb wird es zukünftig die Herausforderung eines jeden Einzelnen sein, sich „digital literacy“ – digitale Kompetenz – anzueignen. Zahnärzte müssen wissen, wie KI-basierte Maschinen, Systeme oder Apps funktionieren, um dann die richtigen Fragen stellen zu können, zum Beispiel nach den Daten, die dahinterstecken, auf welche Weise die Applikation getestet wurde, wie generalisierbar diese ist oder nach welcher Logik sie funktioniert. Der Zahnarzt muss die entscheidenden Schlüsselfragen stellen und die Antworten interpretieren können, um diese Tools zu bewerten – genauso selbstverständlich wie er heute Schlüsselfragen zu einem neuen Komposit oder eine Endo-Feile stellt. Diese Schlüsselfragen müssen noch definiert werden.
Was müssen Zahnärzte beachten, wenn es um rechtliche Fragen hinsichtlich Diagnostik, Therapie oder Behandlungsfehler beim Einsatz KI-basierter Technologie beziehungsweise KI-basierter Applikationen geht?
Rechtlich wird sich für den Zahnarzt in den nächsten Jahren sicherlich nicht viel ändern, denn KI-basierte Systeme arbeiten nicht autonom, sondern unterstützend. Der Zahnarzt wird also immer die Verantwortung für seine Therapiemaßnahmen tragen – unabhängig davon, ob KI im Spiel ist.
Auf welche KI-Anwendung würden Sie persönlich heute keinesfalls mehr verzichten wollen?
Aus privater Sicht finde ich vor allem die Gesichtserkennung am Smartphone sehr praktisch – auch, wenn diese derzeit mit Maske nicht immer funktioniert.
Im zahnmedizinischen Bereich ist für mich die KI-Röntgenunterstützung unverzichtbar geworden. In unserer Abteilung arbeiten wir regelmäßig mit dentalXrai, einer Software, die Zahnmediziner KI -basiert bei der Befundung, Dokumentation und Patientenkommunikation unterstützt.
Das Unternehmen dentalXrai ist als Start-up aus unserem Charité – Universitätsmedizin-Forschungsteam entstanden. Diese Applikation wird bereits von Zahnärzten genutzt und erweist sich im Praxisalltag als sehr hilfreich.
Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.
Service
Dental Online College
Spannende Videovorträge von Prof. Schwendicke zum Thema KI finden Sie auch in unserem neuen Forbildungsportal Dental Online College unter
https://www.dental-online-college.com/experte/falk-schwendicke
Vita
Prof. Dr. Falk Schwendicke ist Direktor der im April 2020 gegründeteten Abteilung Orale Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die Abteilung widmet sich den Bereichen Deep Learning in der Zahnmedizin, Orale Diagnostik und Versorgungsforschung, Gesundheitsökonomie, Implementationsforschung und Präventivzahnmedizin.
Zur KI kam Prof. Schwendicke vor rund vier Jahren über den Austausch mit einem befreundeten Kollegen mit datenwissenschaftlicher Expertise. Schnell war seine Begeisterung für Datenanalyse geweckt, befeuert von dem Wunsch, diese mit zahnmedizinischer Expertise zusammenzubringen und für die Zahnheilkunde in Form von KI‑Applikationen zu nutzen.
Heute leitet er das deutschlandweit einzige Institut zu dem Thema – und ist auch weltweit als Experte ausgewiesen, unter anderem bei der ITU/WHO, der FDI und der DIN. An der Charité arbeitet zudem das größte Team an Datenwissenschaftlern in der Zahnmedizin in Europa.
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