Interview

Wissen auf einen Blick

28.08.23

CMD und Okklusion

Dogmen versus klinische Realität

Behandlungsstrategie, CMD, craniomandibuläre Dysfunktion, Dogmen, Okklusion, Symptome, Therapiekonzept

Natascha Brand

Etwa jeder 8. Patient berichtet von CMD-Symptomen, die sich jedoch hinsichtlich Ursache, Leidensdruck, Therapiebedürftigkeit und Behandlungsstrategie individuell deutlich unterscheiden können. Prof. Dr. Ulrich Lotzmann ­interessiert sich seit seiner zahntechnischen Ausbildung besonders für den Einfluss der Okklusion auf die Funktion des Kauorgans. Im Folgenden äußert er sich zu Dogmen und widersprüchlichen Auffassungen hinsichtlich der Bedeutung der Okklusion für die Entstehung und Behandlung von craniomandibulären Dysfunktionen.

​​Prof. Dr. Ulrich Lotzmann im Interview mit Natascha Brand, Chefredakteurin teamwork, zu Ursachen und möglichen Therapieansätzen bei CMD.

Natascha Brand: Gibt es für die Behandlung von craniomandibulären Dysfunktionen ein allgemein anerkanntes Therapie- konzept?
Prof. Dr. Ulrich Lotzmann: Nein, und dieses Nein hat viele Gründe. Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass es nicht den CMD-Patienten gibt. Jeder Patient hat seine eigene Historie. Ob überhaupt und falls ja, welche Faktoren, in welcher Ausprägung und in welcher Lebenssituation zu CMD-Beschwerden führen, ist individuell unterschiedlich. Hier spielen offensichtlich auch Faktoren wie genetische Disposition, Immunabwehr, und der Trainingszustand der Kaumuskulatur eine wesentliche Rolle. Auch sind Art und Weise, wie der Körper auf Stressoren reagiert, individuell unterschiedlich. Der erfahrene Behandler wird dies in der Diagnostik und in der Planung der Therapie berücksichtigen.

Welche Rolle spielt dabei die Okklusion?

Die Fachleute sind sich zwar prinzipiell darin einig, dass es sich bei der Entstehung der als CMD oder auch TMD bezeichneten craniomandibulären Dysfunktionen, um ein multifaktorielles Geschehen handelt. Es müssen ähnlich der Kariesentstehung verschiedene Faktoren zusammenkommen, damit sich eine CMD entwickeln kann. Ob dabei jedoch die statische und dynamische Okklusion als Kausalfaktor überhaupt eine wesentliche Rolle spielen, wird kontrovers und zum Teil emotional stark aufgeladen diskutiert. Diese Diskussion hält nun schon seit Jahrzehnten an und nimmt derzeit wieder an Intensität zu. Bezüglich der Einschätzung der Okklusion als Kausalfaktor für eine CMD können überspitzt formuliert drei Dogmen unterschieden werden:

  1. Eine gestörte Okklusion ist der wesentliche Grund für eine CMD
  2. Die Okklusion spielt für die Entstehung einer CMD keine oder bestenfalls eine nur geringfügige Rolle
  3. Okklusale Störungen führen nicht zwangsläufig zu einer CMD, können aber im individuellen Fall sehr wohl ein bedeutender Kausalfaktor sein.

Können Sie diese widersprüchlichen Auffassungen näher erläutern?
Lassen Sie uns zunächst über die Annahme sprechen, eine Malokklusion, also eine „schlechte“ Okklusion, sei die wesentliche Ursache für eine CMD. Die Anhänger dieser These sehen – aus ihrer Perspektive auch völlig logisch – die definitive Umformung der Okklusion als die einzig sinnvolle Behandlung einer CMD. Dabei können diese zum Teil sehr invasiven und kostenintensiven Okklusionskorrekturen vom selektiven Einschleifen des Gebisses über kieferorthopädische oder prothetisch-restaurative Maßnahmen bis hin zur orthognathen Kieferchirurgie reichen. Eine okklusale Übertherapie – zumal fehlerhaft ausgeführt – kann leicht zu irreparablen Schäden nicht nur an Zähnen, Muskeln und Kiefergelenken führen. So begegnet man in der CMD-Diagnostik immer wieder Patienten, die zwar objektiv gesehen eine ausgeprägte Fehlokklusion aufweisen, welche allerdings rein gar nichts mit den geklagten Beschwerden zu tun hat. Ignoriert der Behandler die vielschichtigen und oftmals psychischen Probleme des Patienten und reduziert die Ursachen für die Beschwerden voreilig auf die Okklusion, kann dies beim Patienten zu einer Fixierung auf eine somatische Ursache führen. Der Patient lernt vom Behandler, dass die Fehlokklusion das Hauptübel ist. Infolge wird der Patient nicht nur seine körperlichen und seelischen Beschwerden, sondern auch seine privaten und beruflichen Probleme allein auf seinen Fehlbiss schieben. Mit dieser Konversion auf ein somatisches Leiden, hier die Malokklusion, ist dann der Patient kaum mehr einer Kau­saltherapie zugänglich. Eine Malokklusion als die Hauptursache für alle CMD-Beschwerden zu sehen, ist eine zu mechanistische Betrachtungsweise des Kauorgans. Dies ist durch Forschungsergebnisse und klinische Erfahrung gleichermaßen belegt.

Sprechen wir nun über die andere extreme Position. Die Annahme, dass die Okklusion keine oder bestenfalls eine nur sehr geringe Rolle bei der Entstehung einer CMD spielt, wird derzeit in den meisten wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen zum Thema vertreten. Die Autoren begründen ihre Position im Sinn einer evidenzbasierten Zahnmedizin mit Ergebnissen aus Primärstudien und daraus resultierenden Metaanalysen. In der Konsequenz wird der okklusalen Diagnostik und der Korrektur der Okklusion keine Bedeutung mehr beigemessen. Doch auch dieses Dogma wird der klinischen Realität nicht wirklich gerecht. Jeder, der „nicht nur mit dem Mund, sondern auch im Mund behandelt“, weiß zwar, dass eine gestörte Okklusion nicht zwangsläufig zu CMD-Beschwerden führt und auch Patienten mit einer stabilen, interferenzfreien Okklusion durchaus eine ausgeprägte CMD entwickeln können. Aber man sieht auch immer wieder Patienten, die selbst auf geringfügig erscheinende okklusale Veränderungen mit einer deutlichen Zu- oder Abnahme ihrer Beschwerden reagieren. Okklusale Störungen und Fehllagen des Unterkiefers führen also nicht zwangsläufig zu einer CMD, können aber im individuellen Fall sehr wohl ein bedeutender Kausalfaktor sein.

Für einige dieser Patienten kann die definitive Umformung oder Rekonstruktion der Okklusion und Neueinstellung der intermaxillären Okklusion die einzig sinnvolle therapeutische Option sein. Dogmatische Aussagen, wie „eine erfolgreiche CMD-Behandlung bedarf keiner oder nur in seltenen Fällen einer definitiven okklusalen Korrektur“ oder „in aller Regel muss nach der Vorbehandlung eine definitive Veränderung der Okklusion durch prothetisch-restaurative oder kieferorthopädische Maßnahmen erfolgen“ verallgemeinern zu sehr und sind irreführend. Jeder Patientenfall sollte individuell betrachtet werden.

Welche Konsequenz ziehen Sie daraus für die Diagnostik?
Leider kann ich im Rahmen dieses Interviews nicht auf alle diagnostischen Aspekte eingehen. Nur soviel: Bei der klinischen Funktionsanalyse sollte nicht versäumt werden, nach einem möglichen Zusammenhang zwischen der Okklusion und den geklagten Beschwerden des Patienten zu fahnden. Dazu muss man aber in der Lage sein, in der Okklusion des Patienten „zu lesen“. Lage, räumliche Orientierung, Größe und Oberflächentextur von Schlifffacetten, Zahnlockerungen und Zahnkippungen sowie Kontaktverhältnisse müssen erkannt und bewertet werden. Gerade diese diagnostische Fähigkeit wird in der zahnmedizinischen Aus- und Fortbildung nicht oder nicht mehr ausreichend gefördert. Hier besteht Handlungsbedarf. Überhaupt beobachte ich in den letzten Jahren ein abnehmendes Interesse an Funktion und Okklusion. Auch das derzeit dünn gesäte Fortbildungsangebot zu diesen Themen unterstreicht diesen Eindruck. Hierfür spielt sicher der in den letzten Jahren stattgefundene Paradigmenwechsel hinsichtlich der Bedeutung der Okklusion für das Entstehen kraniomandibulärer Dysfunktionen eine wesentliche Rolle.

Wissen wir bereits alles über Okklusion?
Wir wissen viel, aber sicherlich nicht alles über die menschliche Okklusion. Insbesondere, wenn es um Fragen nach möglichen okklusalen Triggerfaktoren für Parafunktionen, Kaueffizienz und der individuell optimalen, langfristig stabilen Okklusion in Statik und Dynamik geht, sind bislang viele Fragen nicht beantwortet. Für mich ist auch die Rolle der Okklusion bei der Entwicklung einer CMD noch nicht ausreichend geklärt. Auch werden oftmals Fragen um die Bedeutung und Gestaltung der statischen und dynamischen Okklusion leider auf die CMD-Thematik reduziert, obgleich parodontale, implantologische Aspekte, Kaueffizienz und okklusaler Komfort ebenso zu berücksichtigen sind.

Was ist grundsätzlich bei der Therapie ­einer CMD zu beachten?
Was das therapeutische Vorgehen bei einer CMD betrifft, gilt natürlich auch hier die Grundregel, jene Therapie oder Therapiekombinationen zu wählen, die am effektivsten und langfristig betrachtet am wenigsten schädigend für den Patienten ist. Das heißt auch frei nach Mies van der Rohe „weniger ist manchmal mehr“. Eine erfolgreiche CMD-Behandlung mündet also nicht zwangsläufig in einer definitiven Veränderung der Okklusion. Hier sind mögliche Vor- und Nachteile für den Patienten sorgfältig abzuwägen.

Jede erfolgreiche Behandlung einer CMD wirkt sich auf die Tonizität und Aktivität der Kau- und Kauhilfsmuskulatur aus. Da der Unterkiefer im Wesentlichen über die Muskulatur am Schädel befestigt ist, führt jede erfolgreiche Behandlung über die geänderte Muskelfunktion auch zu einer veränderten Kieferrelation. Kann der Patient nach muskulärer Normalisierung wieder mühelos und beschwerdefrei in seine maximale Okklusion schließen, erübrigt sich in der Regel die Frage nach einer definitiven Okklusionskorrektur. Problematischer sind hingegen jene Patientenfälle, bei denen im Verlauf der Behandlung deutlich wird, dass eine okklusale Korrektur zum Erhalt der Beschwerdefreiheit erforderlich ist. Der Patient sollte daher vor Beginn der Behandlung über mögliche Therapien, Prognosen, Konsequenzen und Risiken aufgeklärt werden. Diese schließen natürlich auch definitive Okklusionskorrekturen und Veränderungen der intermaxillären Relation mit ein. Hierbei stellt, sofern indiziert, der Transfer der im Laufe der Vorbehandlung erreichten neuen Kieferrelation auf die definitive Prothetik eine besondere Herausforderung dar. Gerade bei diesen okklusal komplexen Patientenfällen, sollte sich daher jeder Behandler vorab kritisch fragen, ob er die Kenntnisse und Fertigkeiten für die definitive Umformung der Okklusion besitzt.

Sie erwähnten mehrfach den Begriff „Mal­okklusion“. Was verstehen Sie darunter?
In der Zahnmedizin gibt es unterschiedliche Definitionen einer Malokklusion. Aus funktioneller Sicht verstehe ich unter Mal­okklusion jede Form einer statischen und dynamischen Okklusion, welche Zähne aufgrund der Zahnstellung unphysiologisch belastet, schädigende Parafunktionen auslöst oder verstärkt, den Unterkiefer mechanisch oder neuromuskulär verlagert und so das belastete Gewebe traumatisiert sowie die Kau- und Schluck­- funktion negativ beeinflusst. Ob eine Mal­okklusion vorliegt, ist demnach individuell zu beurteilen. Lassen Sie mich dies an einem Beispiel näher erläutern. Nehmen wir einen Patienten mit einem scheinbar idealen, karies- und füllungsfreien Gebiss, dessen Ober- und Unterkiefermodelle in stabiler Angle-Klasse I-Verzahnung zusammengesetzt werden können. Trotz dieser scheinbar perfekten Situation kann es sein, dass die Zahnreihen nicht optimal im Schädel zueinander ausgerichtet sind, die Okklusion nicht mit der Muskelfunktion harmoniert. So kann der Patient beim Anheben des Unterkiefers aus der Ruhelage nicht mühelos mit simultanem Kontakt aller Seitenzähne in die maximale Okklusion schließen. Typisch sind dabei stärkere Kontakte im Front- oder Prämolarenbereich. Selbst beim Pressen in der maximalen Interkuspidation nehmen einige dieser Patienten ihre Molaren, obgleich vorhanden, nicht oder nicht ausreichend wahr. Der okklusale Anpressdruck liegt dann im vorderen Zahnbogen und die Molaren werden ihrer Aufgabe, die Kaukräfte auch zum Schutz der Frontzähne und Kiefergelenke aufzunehmen und auf die Kiefer abzuleiten, nicht gerecht. Wir bezeichnen diese Okklusionsverhältnisse auch als „verdeckten posterioren Stützzonenverlust“. Ob Behandlungsbedarf besteht, ist jeweils individuell zu klären.

Übrigens entwickelt oder verstärkt sich diese Infraokklusion im Seitenzahnbereich auch oftmals im Verlauf einer Schienen-Behandlung. Dieser Verlust an posteriorer Abstützung ist nicht, wie fälschlicherweise angenommen, durch eine schienenbedingte Intrusion der Seitenzähne, sondern durch eine leichte Ventralverlagerung des Unterkiefers verursacht. Diese Ventralverlagerung ist das Ergebnis der Normalisierung der Muskelfunktion.

Anders zu werten ist der okklusale Effekt von bimaxillären Protrusionsschienen, wie sie vermehrt zur Behandlung der obstruktiven Schlafapnoe eingesetzt werden. Das nächtliche Tragen dieser Geräte führt zu einer deutlichen Hypervalenz der Protraktoren. Nach Entnahme des Behelfs kann es dem Patienten auch nach Stunden deutlich erschwert oder unmöglich sein, aus der protrusiven Unterkieferposition in seine gewohnte maximale Okklusion zurückzufinden.

Vielen Dank für das informative ­Gespräch, Herr Prof. Lotzmann.

Vita
Prof. Dr. Ulrich Lotzmann ist Direktor der Abteilung für Orofaziale Prothetik und Funktionslehre an der Zahnklinik der Philipps-Universität Marburg. Er gilt als einer der führenden Experten für den Bereich Funktionsdiagnostik und -therapie und ist Autor zahlreicher Publikationen zum Thema CMD. Zudem ist er wissenschaftlicher Leiter des „Curriculum Funktionsdiagnostik“, einer Fortbildung, die sich an das prothetische Team Zahnarzt/Zahntechniker richtet.

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