Fachbericht

Kieferorthopädie & Aligner

19.10.21

Der kiefer­orthopädische Lückenschluss

Versorgung einer unilateralen Nichtanlage

Herbst-Apparatur, Lingual­orthodontie, Lingualbracket, Lingualtechnik, vollständig individuelle linguale Apparatur (VILA)

Dr. Elisabeth Klang, Dr. Eva-Maria Niehoff, Dr. Frauke Beyling, Dr. Susanna Isabel Richter

01 – Ausgangssituation in der klinischen extraoralen und intraoralen Front- sowie in der rechts- und linkslateralen und okklusalen Ansicht

Zur Versorgung einer unilateralen Nichtanlage eines unteren zweiten Prämolaren stehen prinzipiell verschiedene Behandlungskonzepte in der modernen Zahnheilkunde zur Auswahl. Dieser Beitrag soll einen Überblick über die Vor- und Nachteile der einzelnen Therapieoptionen geben. Gleichzeitig wird am Beispiel eines Patientenfalls der einseitig durchgeführte kieferorthopädische Lückenschluss mit einer vollständig individuellen lingualen Apparatur in Kombination mit einer Herbst-Apparatur dargestellt.

Fragen zum Patientenfall

Welche Vorteile sehen Sie in der Anwendung der vollständig individuellen lingualen Apparatur?
Dr. Susanna Isabell Richter: Eine der klassischen Nebenwirkungen einer Behandlung mit der Herbst-Apparatur sind die protrusiven Kräfte auf die Unterkieferfrontzähne. Die Einstellung der bukkolingualen Position dieser Zähne ist mithilfe einer individuell hergestellten Apparatur und der entsprechend genau gefertigten Brackets und Bögen deutlich erleichtert. Individuell geformte Bögen erlauben vorhersagbare Drehmomente. Das wird besonders an dem Lächeln der Patientin deutlich. Trotz erfolgten Lückenschlusses gleicht es nicht dem typischen „Extraktionslächeln“ mit eingefallenen Bukkalkorridoren. Gleichzeitig ermöglicht die individuelle Bogengestaltung den Erhalt der ursprünglichen Kieferform der Patientin, sodass die Rezidivgefahr deutlich geringer ist als bei der Verwendung von konventionellen Bracket- und Bogensys­temen, bei denen die Zahnbögen häufig überexpandiert werden. Und zu guter Letzt ist das fünffach niedrigere Kariesrisiko nicht von der Hand zu weisen. Unser Ziel war es schließlich, dass bis auf die Entfernung des Milchmolaren keine weiteren zahnärzt­lichen Maßnahmen notwendig werden sollten.

Falldokumentation Lückenschluss
Die Patientin stellte sich im Alter von ­13,5  Jahren in der kieferorthopädischen Facharztpraxis vor. Im Rahmen der Erstuntersuchung wurden die Nichtanlage des Zahns 35 bei Persistenz des zweiten Milchmolaren 75, ein ausgeprägter Tiefbiss sowie auf der rechten eine nahezu volle und auf der linken Seite eine ¾-Prämolarenbreite-Klasse-II-Okklusion festgestellt (Abb. 1 bis 8). Radiologisch waren die Zahnan­lagen 28, 38 und 48 ersichtlich.
Die Behandlung erfolgte mit der vollständig individuellen lingualen WIN-Apparatur (DW Lingual Systems) in Kombination mit der Herbst-Apparatur (modifiziertes MiniScope) als Verankerung. Erst nach Einbringen der lingualen Apparatur im Ober- und Unterkiefer im indirekten Klebeverfahren wird normalerweise die Entfernung des persistierenden Milchmolaren 75 angewiesen. In diesem Fall hatte bereits die natürliche Exfoliation des Milchzahns stattgefunden, sodass dieser Schritt unterblieb. Zur Vermeidung von okklusalen Interferenzen wurden halbokklusale Pads auf den zweiten Molaren beider Kiefer angebracht. Die Nivellierung der Zahnbögen erfolgte entsprechend der Empfehlung des DW Lingual Systems durch Einsetzen des 0.012“ SE-Niti im Unter- und des 0.014“ SE-Niti-Bogens im Oberkiefer sowie des 0.016“ x 0.022“ SE-Niti in beiden Kiefern. Ziel in der Leveling- und Aligningphase ist das Sammeln der Zähne 34 bis 44. Nach Insertion der 0.016“ x 0.024“-Stahlbögen wurde die Herbst-Apparatur eingegliedert. Distal des Zahns 34 wurde manuell mithilfe der Masel-Zange ein Knick erster Ordnung in den Stahlbogen eingebracht. Diese Biegung dient als Rezessionsprophylaxe für die mesiobukkale Wurzelfläche des ersten Molaren bei der angestrebten Mesialbewegung. Der Lückenschluss wurde sukzessive mit der Doppelkabelmechanik durchgeführt. Dafür wurden Gummi­ketten (Morita Energy Chain) sowohl auf der ­lingualen Seite am ersten Prämolaren und am Bogenende des zweiten Molaren als auch auf der vestibulären Seite am bukkal angebrachten 2-D-Clip am ersten Molaren und dem unteren Herbst-Aufnahmeelement befestigt (Abb. 9). Es wurde darauf geachtet, dass der 2-D-Clip auf der mesiobukkalen Fläche des ersten Molaren fixiert wurde. Durch den leicht exzentrisch versetzten Kraftansatzpunkt entsteht neben der nach ventral gerichteten Zugkraft eine minimale Mesiorotation des ersten Molaren. Diese dient ebenso wie der zuvor beschriebene Knick erster Ordnung in dem Unterkieferstahlbogen als Rezessionsprophylaxe der mesiobukkalen Wurzelfläche des ersten Molaren bei der Mesialbewegung. Das initiale Kraftniveau pro Gummikette betrug 1,5 Newton. Dementsprechend erfolgte der Lückenschluss insgesamt mit drei Newton. Um die Behandlungszeit so kurz wie möglich zu halten, wurde die Patientin alle drei Wochen zum Austausch der Doppelkabelmechanik einbestellt (Abb. 10 bis 14).
Nach vollständigem Lückenschluss wurde der Unterkieferstahlbogen im dritten Quadranten vertikal verschlüsselt, um ein geringfügiges Wiederöffnen der Lücke während der gleichzeitig stattfindenden Klasse-II-Korrektur zu vermeiden.
Die Aktivierung der Herbst-Apparatur erfolgte entsprechend den Umbau- und Adaptionsprozessen etappenweise, wobei drei Monate post insertionem die Aktivierung auf eine halbe Prämolarenbreite, weitere drei Monate später eine beiderseitige Neutralokklusion im Eckzahnbereich und abschließend eine Überaktivierung als Rezidivprophylaxe eingestellt werden sollte.
Nachdem die Lücke vollständig geschlossen und die Neutralokklusion im Bereich der Eckzähne erreicht worden war, wurde die Herbst-Apparatur entfernt und 0.018“ x 0.018“ ß-Titanium-Bögen wurden im Ober- und Unterkiefer für die Finishingphase eingesetzt. Wichtig dabei ist erneut das vertikale Umbiegen des Bogens in dem Lückenschlussquadranten. Die Behandlungszeit mit der WIN-Apparatur betrug zwei Jahre und zehn Monate.

Retention
Zusätzlich zu den dauerhaft angebrachten festsitzenden 4-4-Kleberetainern im Ober- und Unterkiefer wurde im Bereich der Nichtanlage ein festsitzender 4-6-Klebe­retainer eingegliedert. Dieser wird erst zwei Jahre nach erfolgreich durchgeführtem Lückenschluss beziehungsweise mit Durchbruch des Weisheitszahns entfernt. Auch die Elongationsprophylaxe des zweiten oberen Molaren bis zum Durchbruch des Weisheitszahns in dem Lückenschluss­quadranten erfolgte durch das Anbringen eines temporären, vestibulären Klebe­retainers. Beide Bukkal­retainer wurden am Tag der Entbänderung chairside aus 16 x 22 Stainless Steel-Draht gefertigt und ribbonwise auf den betroffenen Zahnregionen angebracht (Abb. 15 bis 19). Zusätzlich erhielt die Patientin aufgrund der zu Beginn der Behandlung ausgeprägten skelettalen Klasse II einen Nachtaktivator, der die sagittale Korrektur dauerhaft sicherstellen sollte (Abb. 20).

Follow-up und Retentionskontrollen
Im jährlichen Recall werden sowohl die Stabilität des Behandlungsergebnisses als auch der Durchbruch des Zahns 38 kontrolliert. Die Abbildungen 21 bis 27 zeigen deutlich, dass auch 26 Monate nach Entfernen der festen Zahnspange eine Neutralokklusion im Bereich der Eckzähne und im Bereich der Molaren rechts sowie die Mesialokklusion im Bereich der Molaren links erhalten werden konnte. Das Durchschnittsalter für den Durchbruch der Weisheitszähne wird in der Literatur mit 19,8 bis 24 Jahren angegeben [23,22,14]. Da die Patientin in dem hier vorliegenden Fall sich noch nicht in dieser Altersgruppe befindet, sind weiterhin beide Bukkalretainer bis zum Durchbruch des Zahns 38 inseriert.

Schlussbetrachtung
Der vorliegende Patientenfall dokumentiert eindrucksvoll die langfristige Okklusionsstabilität eines unilateralen Lückenschlusses durch ausschließliche Mesialisierung des ersten und zweiten Molaren und gleichzeitige Einstellung einer Neutralokklusion im Bereich der Eckzähne mit der WIN-Apparatur in Kombination mit einer Herbst-Apparatur als minimale Verankerungsmechanik. Unter minimaler Verankerung versteht man, dass die anteriore Zahnposition während der Lückenschlussphase erhalten bleibt, während der Lückenschluss ausschließlich durch die Mesialisierung der posterioren Zahngruppe erfolgt [19].

Das Behandlungsergebnis zeigt sich deckungskonform zu bereits in der Literatur beschriebenen Resultaten erfolgreich therapierter Klasse-II-Mal­okklusionen mithilfe der Herbst-Apparatur als rigide Klasse-II-Mechanik [55,7,8]. Besonders gut ist an dem Patientenfall der simultan zur Bisslagekorrektur durchgeführte unilaterale Lückenschluss zu erkennen. In der Literatur sind Beschreibungen solcher Fallbeispiele auf einzelne Kasuistiken beschränkt [16,28].
Jedoch veranschaulicht dieser Patientenfall deutlich, dass gerade bei Patienten im Wachstumsalter mit einer uni- oder bilateralen Aplasie im Bereich der zweiten Prämolaren und gleichzeitiger Anlage der Weisheitszähne in den betreffenden Quadranten der kieferorthopädische ­Lückenschluss trotz vorherrschender Dis­tal­okklusion als Therapiemittel der Wahl angesehen werden sollte. Ursächlich dafür ist zum einen, dass die Versorgung der Nichtanlagen bereits mit einer häufig ohnehin notwendigen kieferorthopädischen Behandlung kombiniert werden kann. Darüber hinaus ist diese Therapievariante an kein bestimmtes „Zeitfenster“ gebunden. Vielmehr besteht die Möglichkeit, bereits während der funktionskieferorthopädischen Behandlungsphase die natürliche Mesialmigration der Molaren durch gezieltes Einschleifen der funktionskieferorthopädischen Apparatur zu unterstützen. Ein weiterer, nicht unerheblicher Vorteil besteht darin, dass der Abschluss des skelettalen Wachstums des Patienten nicht abgewartet beziehungsweise durch temporäre Versorgungsmaßnahmen im Bereich der Nichtanlage überbrückt werden muss. Patienten, die eine Nichtanlage der zweiten, unteren Prämolaren durch­ ­einen kieferorthopädischen Lückenschluss versorgen lassen, sind in der Regel bereits vollständig austherapiert, bevor eine definitive prothetisch-implantologische Versorgung überhaupt begonnen werden kann. Darüber hinaus ist bis auf die Entfernung der persistierenden Milchzähne keine weitere chirurgische Maßnahme notwendig. Vor allem kann auf die spätere Entfernung der Weisheitszähne in den Quadranten der Nichtanlage verzichtet werden. Als besonders vorteilhaft erweist sich in diesem Zusammenhang, dass durch die Mesialisierung der ersten und zweiten Molaren der retromolare Raum vergrößert und eine komplikationslose Spontaneruption der dritten Molaren umso wahrscheinlicher wird. Der größte Vorteil besteht jedoch in der Tatsache, dass die Zahnreihe durch die eigenen Zähne komplettiert ist und der Patient nicht auf Zahnersatz angewiesen ist (Abb. 28 bis 31).

Differenzialtherapeutische ­Überlegungen
Die Prävalenz für das Auftreten von angeborenen oder erblich bedingten Nichtanlagen der zweiten Unterkieferprämolaren wird in der Literatur 2,5 bis 4,0 Prozent angegeben. Sie folgen damit den Weisheitszähnen als häufigste Nichtanlage.
Differenzialtherapeutisch lassen sich unterschiedliche Ansätze zur Versorgung der uni- oder bilateralen Nichtanlage der bleibenden zweiten Prämolaren benennen, die jedoch in Abhängigkeit vom Patientenalter bewertet werden müssen.

Langfristiger Erhalt des Milchmolaren
Prinzipiell besteht die Möglichkeit, Michmolaren langfristig zu erhalten. Ith-Hansen und Kajer berichteten in diesem Zusammenhang, dass bei 64,5 Prozent der untersuchten 16-jährigen Patienten aufgrund von fehlender Karies oder ausgeprägter Wurzelresorption an den zweiten Milchmolaren keine Indikationen zu ihrer Extraktion bestehen [25]. Andererseits steigt mit zunehmendem Alter die Gefahr einer Milchzahnankylose mit konsekutiver Alveolarfortsatzwachstumshemmung sowie gleichzeitig stattfindender Elongation des Antagonisten und Kippung der benachbarten ­Zähne [6]. Treten diese Komplikationen vor Abschluss des Alveo­larfortsatzwachstums auf, ist die Entfernung des Milchmolaren unumgänglich [30,31]. Ist langfristig eine prothetische Versorgung geplant, ist der Patient in diesem Fall auf herausnehmbare oder fest inserierte Lückenhalter als temporäre Übergangslösung bis zum Wachstumsabschluss angewiesen [15]. Tritt die Milchzahnankylose nach Abschluss des Alveolarfortsatzwachstums auf, besteht prinzipiell die Möglichkeit, den Höhenversatz über Tabletops oder Kunststoffaufbauten auszugleichen, um einen iatrogenen lateral offenen Biss durch Einlagerung der Zunge in diesem Bereich zu vermeiden (Abb. 32). Eine weitere differenzialtherapeutische Überlegung, die bei der Entscheidungsfindung zum langfristigen Erhalt des zweiten Milchmolaren nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die im Vergleich zum zweiten Prämolaren vergrößerte mesiodistalen Breite des Milchmolaren. Diese bewirkt auch bei ansonsten neu­tralen Okklusionsverhältnissen zwangsläufig eine Distalverzahnung im Bereich der ersten Molaren [50]. Schließlich bleibt langfristig aber die Überlegung erhalten, Nichtanlagen zu versorgen, da trotz der guten Prognose vereinzelter zweiter Milchmolaren der Großteil von ihnen zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahrzehnt verloren geht [6].

Implantatprothetische ­Versorgung
Die Möglichkeit einer definitiven implantologischen Lückenversorgung scheidet bei Patienten im Wachstumsalter grundsätzlich aus, da das Alveolarfortsatzwachstum in dieser Entwicklungsphase noch nicht abgeschlossen ist. Bei vorzeitigem Inserieren eines Implantats ist daher mit einem vertikalen und horizontalen Wachstumsdefizit im Bereich des Insertationsorts zu rechnen [39,33,40,11,48]. Wird diese Therapievariante langfristig für die Zeit nach Abschluss des Wachstums anvisiert, ist auch dann der Patient bei vorzeitigem Verlust des Milchmolaren auf herausnehmbare oder fest inserierte Lückenhalter bis zum geeigneten Implantationsalter angewiesen [15]. Ein weiterer Aspekt, der bei der Therapieplanung berücksichtigt werden sollte, ist die natür­licherweise größere mesiodistale Breite der Milchmolaren im Vergleich zu den zweiten Prämolaren. Wird diesem Umstand nicht durch approximale Schmelzreduktion an dem Milchmolaren und Lückenanpassung durch eine kieferorthopädische Behandlung mit einer festen Multiband-Apparatur im Vorfeld Rechnung getragen, muss die implantatgestützte Krone breiter gestaltet werden. Konsekutiv ist auch bei ansonsten neutralen Okklusionsverhältnissen nur eine Distalverzahnung im Bereich der ersten Molaren möglich. In jedem Fall muss anhand eines Röntgenbildes vorab die Wurzelkonfiguration des zweiten Milchmolaren evaluiert werden. Zeigt sich diese stark gespreizt, sind eine approximale Schmelzreduktion und eine Anpassung der Lückengröße aufgrund der vorherrschenden anatomischen Gegebenheiten nicht realisierbar.

Autotransplantation
Eine weitere, differenzialtherapeutische Überlegung besteht in der Autotransplantation von Zähnen [20,44,12]. Diese Therapieoption ist jedoch an strenge ­Voraussetzungen geknüpft. Neben der Indikation zur Extraktionsentscheidung im Gegenkiefer oder von Weisheitszähnen [3] sollte die Apexlänge des zu transplantierenden Zahns zwischen 2/3 und 3/4 betragen und über ein noch weites Foramen apicale verfügen.
Transplantationen von Zähnen mit einem fortgeschritteneren Entwicklungsstand gelten als prognostisch ungünstig und sind häufig mit einem erhöhten Wurzelresorptionsrisiko vergesellschaftet [20,27].

Kieferorthopädischer Lückenschluss mit Einstellung des Weisheitszahns
Unabhängig vom Patientenalter oder seiner Gebissentwicklung stellt der kiefer­orthopädische Lückenschluss eine attraktive Alternative zu einer implantatprothetischen oder chirurgischen Lückenversorgung im Bereich der Nichtanlage dar [3,57]. Dies wird besonders deutlich an der Tatsache, dass bis auf die Entfernung des persistierenden Milchzahns in der Regel keine weiteren chirurgischen oder zahnärztlichen Maßnahmen erforderlich sind. Zusätzlich steigt die Wahrscheinlichkeit der Spontaneruption des Weisheitszahns in dem betreffenden Quadranten mit der Prämolarennichtanlage durch signifikante Vergrößerung des retromolaren Raums. Gerade wenn der Lückenschluss ausschließlich von distal durch Mesialisierung der ersten und zweiten Molaren erfolgt, können Zahnersatz im Bereich der Nichtanlage und eine ansonsten möglicherweise erforderliche Entfernung des Weisheitszahns in dem betreffenden Quadranten vermieden werden [57].
Früher wurde diese Vorgehensweise aufgrund fehlender oder unzureichender Verankerungsstrategien häufig mit Extraktionen von Prämolaren im kon­tralateralen Quadranten und/oder Gegenkiefern durchgeführt. [26,46,45,36]. Dieses Vorgehen sollte jedoch aus heutiger Sicht nur noch dann angewandt werden, wenn neben der Aplasie eines bleibenden Zahns auch gleichzeitig allgemeingültige kieferorthopädische Gründe für eine Extraktionstherapie bestehen [46,38,4]. Aber selbst wenn diese aus mechanotherapeutischer Sicht günstigen Voraussetzungen vorliegen, werden in der Literatur kompromissbehaftete Behandlungsabschlüsse wie Persistenz von Restlücken oder Verankerungsverlust durch Mittellinienverschiebung in den von Aplasie betroffenen Quadranten beschrieben [35]. Die klinischen Erfahrungen führten sogar so weit, dass einige Autoren vor einem kieferorthopädischen Lückenschluss ohne Ausgleichsextraktion in Gänze abrieten [24,6].

Die Zurückhaltung bezüglich dieser Therapievariante lag darin begründet, dass aus mechanotherapeutischer Sicht besonders hohe Anforderungen an die Verankerungssituation der anterioren Unterkiefersegmente gestellt werden müssen. Dies wird umso deutlicher, wenn der Lückenschluss ausschließlich von distal realisiert werden soll. Entsprechend dem dritten newtonschen Axiom „actio = reactio“ erzeugt jede Kraft auf einen Körper eine gleich große, entgegengerichtete Kraft. Ist diese gegensätzliche Kraft nicht erwünscht, spricht man in der Kieferorthopädie von einem Verankerungsverlust. Ein kieferorthopädischer Verankerungsverlust, wie er sich klinisch bei einem Lückenschluss ausschließlich von distal in der Retrusion der Unterkieferfront, der Vergrößerung des Overjets oder einer unzureichenden Bewegung der Molaren zeigt [24], darf in der modernen Kieferorthopädie nicht mehr vorkommen. In diesem Zusammenhang haben sich Behandlungsmittel wie festsitzende rigide oder flexible Bisslagekorrekturgeräte (Herbst-Apparatur oder Forsus-Feder), skelettale Verankerungen mittels „temporary anchorage devices“ (TADs) oder intermaxilläre Gummizüge als hilfreich erwiesen.

Vollständig individuelle linguale ­Apparatur in Kombination mit der Herbst-Apparatur
Die Kombination aus Herbst-Apparatur und vollständig individueller lingualer Apparatur (VILA) hat sich unter den genannten Behandlungsoptionen als besonders zuverlässig erwiesen. So ist der Behandlungserfolg im Gegensatz zu intermaxillären Gummizügen komplett unabhängig von der zuverlässigen Mitarbeit des Patienten. Auch die Behandlung mittels TADs zeigt systeminhärente Defizite. So wird die Verlustrate der Mini-Schrauben während der aktiven Nutzung in der Literatur mit Werten bis 19,3 Prozent angegeben [34]. Dabei gilt zu beachten, dass das Verlustrisiko (am harten Gaumen) steigt, je jünger der Patient ist [29]. Auch im Hinblick auf die Geschwindigkeit, mit der der Lückenschluss vollzogen wird, sind die TADs der Herbst-Apparatur unterlegen. Untersuchungen belegen in diesem Zusammenhang, dass die durchschnittliche Protraktionsgeschwindigkeit der unteren Molaren bei Ersterem 0,31 mm/Monat, bei Letzterem hingegen 0,51 mm/Monat betrug [37]. Ein weiterer Vorteil der Kombination aus der Herbst-Apparatur und VILA liegt in der Möglichkeit, neben dem angestrebten Lückenschluss von distal gleichzeitig eine Bisslagekorrektur durchzuführen [56].

Torquekontrolle
Unter Torque versteht man einerseits rein deskriptiv die bukkolinguale Ausrichtung der Zahnachsen. Andererseits ist Torque aber auch das biomechanische Drehmoment, das erzeugt wird, wenn ein Vierkantbogen in den Bracketslot getwistet wird. In Abhängigkeit von der Größe der Verwindung, der Dimension des Drahts und des Bracketslots sowie dem Spiel des Drahts in dem Bracketschlitz bewegt der Vierkantbogen durch die im aktivierten Zustand entstehende Tor­sionsspannung die Zahnwurzel und erzeugt somit die Torquebewegung [9,17]. Um eine suffiziente Torquebewegung erzielen zu können, sind hohe Anforderungen an die Präzision der einzelnen Komponenten der gewählten kieferorthopädischen Behandlungsapparatur zu stellen. Daher sind solch komplexe dreidimensionale Zahnbewegungen mit herausnehmbaren Schienensystemen nicht zu erreichen.
Die größte Herausforderung neben der Schaffung einer minimalen Verankerungssituation (per definitionem Lückenschluss ausschließlich von distal) stellt die Torquekontrolle der Unterkieferfrontzähne während der Behandlung mit der Herbst-Apparatur dar. Das kommt daher, dass der nach ventral gerichtete Kraftvektor der Herbst-Teleskope protrusiv auf die Unterkieferinzisivi wirkt. Zum Einstellen einer Klasse-I-Verzahnung sind stark proklinierte Unterkieferfontzähne jedoch hinderlich. Dementsprechend gab zahlreiche Bestrebungen zum „Abfangen“ dieser reaktiven Kräfte, die allesamt nicht den gewünschten Erfolg zeigten [41,18,49]. Im Gegensatz dazu vermag die VILA aufgrund ihrer exzellenten Torquekontrolle durch perfekt aufeinander abgestimmte und präzise gefertigte Slot- und Bogendimensionen eine vollständige dreidimensionale Kontrolle der Unterkieferinzivi zu gewährleisten beziehungsweise diese Zahngruppe sogar noch während der aktiven Herbst-Phase aufzurichten [52,56].

Präzision der Slotdimension
Die VILA zeichnet sich durch die höhere Präzision der Slotdimension [1] im Vergleich zu konventionellen Lingual- [13,51] oder Bukkalbrackets [9] aus. Gerade Letztere weisen starke Abweichungen zu den von den Herstellern angegebenen Slotgrößen auf. So wurden tatsächliche Slotgrößen gemessen, die in ihrer Dimension 2 bis 24 Prozent über den angegebenen Werten lagen [36,32,9]. Die meisten Bukkalbrackets werden durch das sogenannte Metal-Injection-Moulding-Verfahren hergestellt. Der große Nachteil dabei liegt im Sinterprozess, in dessen Verlauf es zu einer nicht näher bestimmbaren Schrumpfung der einzelnen Bracketkörper kommt. Gleichzeitig wiesen die Slotoberflächen der untersuchten Bukkalbrackets Rückstände von Metallpartikeln, Rillen, Oberflächenrauigkeiten und Porositäten auf [36,9]. All diese Faktoren führen dazu, dass der Bogen entweder nicht vollständig oder aber aufgrund der überdimensionierten Slotgröße nicht füllend in den Slot des labialen Brackets eingesetzt werden kann. Daraus resultiert ein Mangel an Torque­kontrolle [10]. Unter den vollständig individuellen lingualen Bracketsystemen weist die im Patientenfall angewendete WIN-Apparatur die höchste Präzision in der Slotdimension auf. Die Slotdifferenz eines WIN-Brackets wird mit 0.0180“ bis 0.0181“ angegeben. Um die Slotgenauigkeit zu gewährleisten, werden im WIN-System die Slots in einem speziellen Arbeitsschritt gefräst (Abb. 33). Die Genauigkeit in der Herstellung der Bracketslots bietet den entscheidenden klinischen Vorteil im Vergleich zur Behandlung mit konventionellen bukkalen oder lingualen Brackettypen, da sie eine hochgradig präzise Interaktion zwischen Bracket und Bogen ermöglicht, die wiederum für eine exzellente Torquekontrolle unabdingbar ist [5].

Dimensionsgetreue Bögen
Kieferorthopädische Bögen sind häufig unterdimensioniert [17]. Dementsprechend würde es selbst bei Verwendung von Brackets mit präzisen Slotdimen­sionen immer noch zu einem nicht unerheblichen Torquespiel kommen. Unter Torquespiel versteht man das Ausmaß (gemessen in Grad), in dem ein rechteckiger oder quadratischer Bogen zunächst verdrillt werden muss, bevor er aktiv ein Drehmoment in dem Bracketslot erzeugen kann. Eine herstellungsbedingte ungenaue Bogendimension führt also dazu, dass Extrabiegungen in den Bogen eingebracht werden müssen, um das Torquespiel zu reduzieren und in klinisch akzeptabler Behandlungszeit eine Zahnbewegung erzielen zu können.
Dieses Problem stellt sich bei der Anwendung der WIN-Apparatur nicht. So konnte gezeigt werden, dass der 0.018“ x 0.018“-ß-Titanium-Finishing-Bogen passgenau zur korrespondierenden Bracketdimension hergestellt wird. Die horizontale und damit klinisch relevante Dimension dieses Bogens weicht im Durchschnitt um nicht mehr als 1  µm von der Slotdimen­sion ab [2]. Die individuell angepassten Bögen werden nach vorheriger Planung und Bracketpositionierung von hochpräzisen Biegerobotern hergestellt (Abb. 34). Ein weiterer Vorteil der auf den Patienten individuell abgestimmten Bogenherstellung ist die Beibehaltung der ursprünglichen Bogenform. Artifizielle Zahnbogenerweiterungen, wie sie beispielswiese durch die Verwendung von konfektionierten Drahtbögen vor allem im Bereich der intercaninen Distanz des Unterkiefers entstehen, begünstigen die Bildung eines posttherapeutsichen Rezidivs [53]. Die Präzision der einzelnen aufeinander abgestimmten Komponenten der WIN-Apparatur ermöglicht eine Einstellung der Zähne im Mund des Patienten im Vergleich zu der Planung am Set-up-Modell mit einer Genauigkeit von 1  mm und 4° [47,43,21,42]. Gleichzeitig ist die Anfälligkeit für Dekalzifikationen (White Spot-Läsionen) um den Faktor fünf oder mehr reduziert [54].

Literaturverzeichnis unter
www.teamwork-media.de/literatur

ProduktProduktnameFirma
Vollständig individuelle linguale ApparaturWIN-ApparaturDW Lingual Systems
Rigide Bisslagekorrektur-Apparatur und minimale VerankerungsmechanikHerbst-Apparatur,
modifiziertes MiniScope
American Orthodontics
GummiketteMority Energy ChainRocky Mountain Orthodontics

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