Fachbericht
Themen & Materialien
23.11.22
Diagnosebasierte Individualprophylaxe
Präventivkonzept für die Praxis – Teil 1
Diagnosebasierte Prophylaxe (DIP), Laktobazillen, Plaquehypothese, Präventionskonzept, Streptococcus mutans
Präventive Leistungen in der zahnärztlichen Praxis richten sich oft nach den problemlosen Abrechnungsmöglichkeiten, wohingegen implantologische oder parodontale Behandlungskonzepte auf den medizinischen Gegebenheiten aufbauen. Der Autor erläutert ein Präventivkonzept, das in erster Linie auf einer medizinischen Indikation aufbaut – es ist daher eine „Diagnosebasierte Individualprophylaxe“. Diese berücksichtigt die individuellen Patientenparameter wie im Konsensuspapier zur patientenzentrierten Prävention (Haas, Ziebold, Wicht, Cachoven) beschrieben.
In diesem ersten Teil der dreiteiligen Artikelserie werden die fachlichen Voraussetzungen, basierend auf der erweiterten ökologischen Plaquehypothese erläutert.
Die professionelle Zahnreinigung ist in den letzten Jahren ein fester Bestandteil des Präventionsangebotes vieler Zahnarztpraxen geworden. Prävention ist ohne professionelle Zahnreinigung nicht denkbar. Leider ist diese Maßnahme oft der alleinige Inhalt einer Präventionssitzung. Dabei beruft man sich auf die Untersuchungen von Axelsson und Lindhe und übersieht, mit welcher Häufigkeit die Patienten in den ‧zitierten Untersuchungen einbestellt wurden [1, 2].
- In den ersten 2 Jahren alle 2 Monate
- vom 3.–6. Jahr alle 3 Monate
- danach bedarfsorientiert
Parameter für die Risiko- und Speicheldiagnostik
Dass dies in einer zahnärztlichen Praxis nicht zu leisten ist und darüber hinaus auch die finanziellen Ressourcen der Patienten überfordern würde, war offensichtlich. Deswegen sprach sich auch Axelsson schon frühzeitig für eine Risikodiagnostik aus. Dabei sollte allein die Präsenz von Plaque als absolutes diagnostisches Kriterium nicht ausreichen, denn hierbei würde auch vernachlässigt, welche vielfältigen Parameter überhaupt Entstehung und Menge der vorhandenen Plaque beeinflussen. Der alleinige Hinweis auf bessere häusliche Hygienesorgfalt ist dabei zwar wichtig, aber nicht immer zielführend. Die Durchführung einer professionellen Zahnreinigung als einzige Maßnahme wird der Komplexität des Problems nicht gerecht.
Folgende Parameter beeinflussen die vorgefundene Menge an Plaque und sollten daher in eine Risikodiagnostik mit einfließen:
- Anzahl plaquebildender Bakterien (Streptococcus mutans, Laktobazillen) (subklinischer Parameter)
- Substratangebot
- Ernährung (Kauaktivität)
- Speichelsekretionsrate (subklin. P.)
- Pufferkapazität des Speichels (subklin. P.)
- Generelles pH-Milieu der Mundhöhle (subklin. P.)
- Fluoridangebot
- Morphologie der Zähne
- Zahnstellung
- Motivation und Kenntnisse des ‧Patienten
- Mundhygiene (Wissen und ‧Umsetzung)
Es ist zu sehen, dass in die Risikodiagnostik sowohl klinisch zu ermittelnde Parameter einfließen, als auch klinisch nicht sichtbare – also subklinische Parameter ‧(subklin. P.). Diese sind nur durch eine Speicheldiagnostik zu ermitteln. Eine umfassende Diagnostik sollte daher nicht nur die klinischen Parameter, sondern auch die subklinischen Parameter – in der Tabelle mit (subklin. P.) gekennzeichnet – beinhalten.
Entscheidende Voraussetzung zur Interpretation der subklinischen bakteriellen und funktionellen Speichelparameter ist das Wissen um die Entwicklung des oralen Bioms von einer homöostatischen hin zu einer dysbiotischen Situation.
Ausgehend von der chemisch-parasitären Theorie der Kariesentstehung von Willoughby Dayton Miller änderte sich das Plaque- beziehungsweise Biofilmverständnis fortlaufend und entsprechend den wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Geburtsstunde des Speicheltests
Die unspezifische Plaquetheorie postulierte, dass Plaque per se kariogen sei. Diese Hypothese sah die Karies als das Ergebnis des Zusammenspiels aller Plaquemikroorganismen an, wobei mehr Biofilm auch mehr Karies bedeutete. Kariespräventive Strategien zielten daher auf die regelmäßige Plaqueentfernung. Dieses Konzept spiegelt sich auch heute noch in der Tatsache wider, dass vielerorts der Patient angehalten wird, regelmäßig zu einer professionellen Zahnreinigung als alleinige Leistung in der Praxis zu erscheinen.
Diese unspezifische Plaquetheorie wurde später durch die spezifische Plaquehypothese abgelöst. Diese postulierte, dass die bakterielle Zusammensetzung der Plaque entscheidend für die Kariesentstehung sei und nicht die Plaque per se.
Als maßgebliche und wichtigste Keime wurden Laktobazillen (LB) und Streptococcus mutans (SM) identifiziert [6, 7].
In der Folge wurden vereinfachte bakteriologische Untersuchungen entwickelt – gemeinhin als „Speicheltest“ bezeichnet – mit dem Ziel, die Keime auf einfache Art in ihrer Präsenz und Menge nachzuweisen.
Die Erkenntnis, dass eine Karies ohne die Präsenz dieser beiden Leitkeime auftreten kann, führte zur erweiterten ökologischen Plaquehypothese. Diese enthält sowohl Elemente der unspezifischen als auch der spezifischen Plaquetheorie, bringt aber beides mit dem klinischen Verlauf und unserem präventiven Verständnis besser in Einklang [3, 4, 5].
Wissenschaftliches Konzept
Der erste Schritt bei der Entwicklung eines nicht- oder minimalinvasiven Behandlungsprogramms ist die Identifizierung von Karies als Krankheit, sowohl im präkavitären als auch im kavitären Stadium [8].
Eine kontinuierliche Zufuhr fermentierbarer Kohlenhydrate führt zu einer Vermehrung der Keime, die in der Lage sind, das angebotene Substrat zu verstoffwechseln und daraus Säure zu bilden. Diese Keimvermehrung manifestiert sich klinisch in einer vermehrten Plaqeuakkumulation [9].
Die zunehmende Plaqueakkumulation ist daher nicht nur Ausdruck von Hygienedefiziten des Patienten, sondern auch Ergebnis dieser Zunahme von Plaquebakterien durch das vermehrte Substratangebot.
Zunächst vermehren sich Keime der sogenannten Non-mutans-Gruppe (Abb. 1). Diese sind schwache Säurebildner, aber in der Lage, das pH-Niveau abzusenken (azidogene Phase). In der Folge finden starke Säurebildner, Streptococcus mutans und Lactobacillus spp., ideale Wachstumsbedingungen und können das ganze System überwuchern (azidurische Phase). Das Biom hat sich aus einem homöostatischen in einen dysbiotischen Zustand verändert (Abb. 2) [7, 9].
Im Co-Working-Space: Streptococcus mutans (SM) und Laktobazillen (LB)
Die Rolle von Streptococcus mutans erschöpft sich jedoch nicht allein in der starken Säurebildungskapazität: SM ist Hauptakteur bei der Bildung von extrazellulären Polysacchariden und damit der Garant für ein ungestörtes „Quorum sensing“ in der Plaque, da die von ihm gebildete Matrix das zahnaufliegende Biotop vor den natürlichen Abwehrfunktionen der Mundhöhle – Sekretionsrate und Pufferkapazität – schützt [10, 11].
Das bedeutet, dass Streptococcus mutans nach wie vor eine entscheidende Rolle im Erkrankungsprozess spielt und zusammen mit den Laktobazillen einen wichtigen Parameter für das Erkrankungsrisiko darstellt [9, 12].
Streptococcus mutans ist mitentscheidend für die Aufrechterhaltung des sauren Milieus, das so ideale Wachstumsbedingungen für Laktobazillen bietet. Tatsächlich sind LB in der Lage, bis zum pH-Wert von 3 Säure zu produzieren – während SM bei einem pH-Wert zwischen 4 und 5 die Säureproduktion einstellt. Laktobazillen – selbst nicht aktiv am Plaqueaufbau beteiligt – nutzen so das von SM geschaffene pH-Milieu, um die Kariesprogredienz voranzutreiben [13, 14, 15].
Dysbiotische Situation: Entstehung und Auswirkung
Sind Streptococcus mutans und Laktobazillen in hoher Zahl nachweisbar, dann befindet sich das orale Mikrobiom in einer dysbiotischen Situation und stellt damit ein Erkrankungsrisiko dar [9].
Für den therapeutischen Ansatz ist von Bedeutung, dass die Zahl der Laktobazillen Hinweise auf den Kohlenhydratgehalt der Nahrung sowie den Zuckerkonsum des Patienten gibt, und damit einen frühzeitigen Hinweis auf eine ungünstige Ernährungssituation liefert [16].
Dysbiotische Situationen sind oft auch mit ungünstigen funktionellen Speichelparametern verknüpft. Verminderte Kauaktivität aufgrund von weichen und/oder klebrigen Speisen sowie wiederholte Zufuhr von sauren Getränken führen zu Veränderungen des Speichel-pH-Werts, der Pufferkapazität oder der Sekretionsrate [17].
Eine verminderte Sekretionsrate bedeutet auch eine geringere Konzentration von Natriumbikarbonat in der Mundhöhle, was sich durch ein Absinken der Pufferkapazität ausdrückt. Damit wird eine natürliche Abwehrfunktion gegenüber Nahrungs- und Plaquesäuren in der Mundhöhle verringert [18].
Zusammenfassend besteht die Plaque aus potenziell pathogenen und aus apathogenen Keimen. Für die Entstehung einer pathogenen Plaque ist in erster Linie nicht der Genotyp der Bakterien allein, sondern der Phänotyp entscheidend. Dieser entwickelt sich aus den individuellen Gegebenheiten, die einen potenziell kariogenen Keim zu einem tatsächlich kariogenen Keim werden lassen können. Die Säurebildungskapazität des Biofilms nimmt zu, was zu einer weiteren pH-Wert-Absenkung im oralen Milieu führt [19].
Neuere Untersuchungen konnten bereits nachweisen, dass es möglich ist, dieses Säurebildungspotenzial durch ein einfaches Nachweisverfahren zu bestimmen. Dadurch könnte man schon frühzeitig einen Hinweis darauf bekommen, dass sich das Milieu im oralen Biom hin zu einer dysbiotischen Situation verändert [19].
Dieser Prozess ist für die präventiven Konzepte der Zahnarztpraxis von Bedeutung: Es ist eine Reversibilität möglich, wenn die entscheidenden Faktoren, die für die Veränderungen verantwortlich waren, beeinflusst werden können.
Fazit
Mit Speicheldiagnostik können wir sowohl bakterielle (SM, LB) als auch funktionelle Speichelparameter (Sekretionsrate, Pufferkapazität und Speichel-pH-Wert) ermitteln. Damit wird nicht nur eine diagnostische Grundlage für die Therapie geschaffen, sondern es eröffnet sich gleichzeitig die Möglichkeit einer objektivierbaren Verlaufskontrolle.
Durch Speicheltests werden Laktobazillen, Streptococus mutans und auch Hefepilze nachgewiesen. Diese Keime befinden sich in der dem Zahn aufliegenden Plaque. Durch das Kauen von Paraffin oder eines zuckerfreien, geschmacklosen Kaugummis werden diese in der Plaque organisierten Keime in die Mundhöhle freigesetzt und können durch Untersuchung des Gesamtspeichels hier nachgewiesen werden. Dabei korreliert die Menge an diesen planktonischen Keimen mit der Anzahl der in der Plaque organisierten Keime [21, 22, 23, 24, 25]. Darüber hinaus ist es möglich, durch einen Plaqueabstrich die Anzahl der in der Plaque organisierten Keime direkt zu untersuchen. Es besteht eine statistische Korrelation zwischen der Karieserfahrung, den Keimen im Zahnbelag sowie im Speichel [26].
Zusammenfassend gilt, dass die gesundheitsassoziierten Bakterienarten in den Phasen der Dysbiose unterdrückt werden, aber nicht vollständig verloren gehen. Dadurch wird die Reversibilität der Veränderung im oralen Biom erst möglich. Gleiches Reaktionsmuster sieht man auch bei den parodontalen Erkrankungen: Gesundheitsassoziierte Bakterienarten werden in den Phasen der Dysbiose unterdrückt – gehen aber nicht vollständig verloren [20].
Hinweis: In Teil 2 (teamwork Ausgabe 1/23) wird die Bestimmung bakterieller und funktioneller Speichelparameter in den unterschiedlichen Patientengruppen (subklinische Risikofaktoren) beschrieben.
In Teil 3 (teamwork Ausgabe 2/23) werden die Umsetzung in der Zahnarztpraxis sowie die sich hieraus ergebenden therapeutischen Konsequenzen erläutert.
Vita
Dr. Lutz Laurisch hat seit 1988 Prävention als grundlegenden Bestandteil in der Praxis integriert und darüber über 400 Vorträge gehalten sowie über 100 Artikel und mehrere Bücher geschrieben. Er erhielt die goldene Ehrennadel der DGZMK für die Verdienste um die Weiterentwicklung von Konzepten in der Prophylaxe, ist im wissenschaftlichen Beirat diverser Fachzeitschriften sowie seit 2013 Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Präventive Zahnmedizin (DGPZM).
Kontakt
Dr. Lutz LaurischRaderbroich 28a
41352 Korschenbroichwww.lutz-laurisch.de
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23.11.22
Diagnosebasierte Individualprophylaxe
Präventivkonzept für die Praxis – Teil 1
Diagnosebasierte Prophylaxe (DIP), Laktobazillen, Plaquehypothese, Präventionskonzept, Streptococcus mutans
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