Interview

Chairside & Praxis

06.05.25

Hilfe bei Dental Neglect und häuslicher Gewalt

Gewaltbetroffene identifizieren und richtig handeln

Dental Neglect

Redaktion teamwork

Adobe Stock/Viktoriia M

Die mit dem Wrigley Prophylaxe Preis 2024 ausgezeichnete Initiative „Zahnärztinnen und Zahnärzte sehen mehr als Zähne!“ zeigt, wie Zahnärzte Kindern mit vernachlässigter Mundgesundheit helfen können. Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer, Medizinische Fakultät der Universität Münster, erläutert, welche Indikatoren auf häusliche Gewalt hindeuten und welche Schritte im Verdachtsfall eingeleitet werden sollten.

Frau Prof. Pfleiderer, weshalb haben Sie und Ihr Team das Projekt „Zahnärztinnen und Zahnärzte sehen mehr als Zähne!“ ins Leben gerufen?
Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer:
Ungefähr 250 000 Personen waren laut Bundeskriminalamt allein im Jahr 2023 von häuslicher Gewalt betroffen, davon waren ungefähr 70 Prozent Mädchen und Frauen sowie 30 Prozent Jungen und Männer. Am häufigsten waren Personen der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen betroffen, gefolgt von den unter 21-Jährigen (ca. 20 Prozent). Die Kindeswohlgefährdung, eine Form der häuslichen Gewalt, erreichte im Jahr 2023 ebenfalls einen neuen Höchststand, wobei Vernachlässigung mit 58 Prozent die häufigste Form darstellte. Angesichts dessen, dass Betroffene kaum zur Polizei gehen, ist es umso wichtiger, dass medizinisches Personal geschult wird, um Verletzungen und traumatische Verhaltensweisen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Insbesondere Zahnärzte nehmen hierbei eine besonders wichtige Rolle ein. Auf der einen Seite können sie gewaltbezogene Indikatoren und Verhaltensweisen bei Erwachsenen identifizieren, aber sie können auch bei Kindern emotionale oder körperliche Vernachlässigung und Missbrauch erkennen. Leider sind nur wenige Zahnarztpraxen sensibilisiert und das Thema wird in der zahnmedizinischen Ausbildung in Deutschland kaum behandelt. Diese bestehenden Wissenslücken waren ausschlaggebend für die Initiierung unseres Projekts. Angesichts des Mangels an geeigneten Materialien haben wir im Rahmen dieses Projektes innovative Trainingsmaterialien für die Zahnmedizin entwickelt und in eine bestehende Trainingsplattform zur häuslichen Gewalt integriert. Die Inhalte dieser Materialien umfassen unter anderem die verschiedenen Formen und Dynamiken häuslicher Gewalt, Indikatoren, medizinische Dokumentation sowie die angemessene Kommunikation in Fällen häuslicher Gewalt. Diese Materialien stehen kostenlos zur Verfügung.

Welche Formen der Kindesvernachlässigung gibt es?
Prof. Pfleiderer: Kindesvernachlässigung kann als körperliche und/oder emotionale Vernachlässigung auftreten. Körperliche Vernachlässigung zeigt sich z. B. in einer unzureichenden Körperhygiene, Unter- oder Mangelernährung und unpassender Kleidung. Auch spezielle Mängel in der Gesundheitsversorgung können auftreten, z. B. unbehandelte Krankheiten. Eine Form davon ist der sogenannte „Dental Neglect“. Die emotionale Vernachlässigung zeichnet sich durch eine andauernde und wiederholte Missachtung der emotionalen Bedürfnisse des Kindes aus. Es erlebt einen Entzug von Fürsorge, Betreuung, Zuwendung und Liebe. Die vernachlässigende Person ist immer identifizierbar, da dies die sorgeberechtigte und sorgeverpflichtete Person ist.

Welche Indikatoren für Kindesvernachlässigung lassen sich am Zahnstatus erkennen? Was versteht man unter Dental Neglect?
Prof. Pfleiderer: Dental Neglect beschreibt die zahnmedizinische Vernachlässigung von Kindern. Bei dentaler Vernachlässigung besteht oft ein chronischer Zustand unversorgter kariöser Läsionen. Es gibt keinen Grenzwert, ab welcher Anzahl an kariösen Läsionen man von Dental Neglect spricht, aber eine Studie zeigt, dass im bleibenden Gebiss bei vernachlässigten Kindern unbehandelte, kariöse Läsionen achtmal häufiger vorkommen als bei nicht vernachlässigten Kindern. Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang noch die frühkindliche Karies oder auch „Nuckelflaschenkaries“ als eine Erscheinungsform von Kindesvernachlässigung. Es handelt sich hierbei um eine kariöse Milchzahnerkrankung, die nach Durchbruch der ersten Milchzähne bis spätestens zum Beginn des Zahnwechsels auftritt. Ursache sind vor allem zuckerhaltige Getränke, die mittels Saugflaschen verabreicht werden, kombiniert mit einer unzureichenden Zahnpflege.

Wie sollten Zahnärzte ihren Verdacht ansprechen? Was ist zu beachten, wenn die betroffene Person in Begleitung ist?
Prof. Pfleiderer: Das kann man so allgemein nicht sagen. Zahnarztpraxen können die Frage nach erlebter häuslicher Gewalt direkt mit in ihren Anamnesebogen aufnehmen. Dies sensibilisiert die Patienten direkt für das Thema. Bei einem Verdacht sollten unter vier Augen konkrete Fragen zum Thema gestellt werden. Entsprechende Fragen und Strategien, wie man es schafft, alleine mit der betroffenen Person im Behandlungsraum zu sein, befinden sich auf unserer Trainingsplattform im Modul zur Kommunikation. Vor allem müssen Zahnärzte die Hemmung davor verlieren, etwas falsch zu machen oder jemanden „auf die Füße zu treten“. Deswegen haben wir unser Projekt ins Leben gerufen: Je besser Zahnärzte wissen, wie sie Gewaltbetroffene identifizieren können, desto sicherer werden sie sich fühlen, das Thema anzusprechen.

Wie sollte auf das Auftreten von frühkindlicher Karies/Dental Neglect reagiert werden?
Prof. Pfleiderer: In diesem Fall sollten Zahnärzte ein Gespräch mit den Erziehungsberechtigten über die Beeinträchtigung durch Karies, Aufklärung zur Mundhygiene und Putzinstruktionen und Therapiemöglichkeiten führen. Dann sollte ein Kontrolltermin vereinbart werden. Im besten Fall werden die Folgetermine eingehalten und Maßnahmen zur Verbesserung der Zahnhygiene werden umgesetzt, weitere Verlaufskontrollen sollten folgen. Werden die Folgetermine nicht wahrgenommen, sollte erneut ein Termin ausgemacht werden, um die Situation zu besprechen und weitere Unterstützung anzubieten. Erscheint die Familie wieder nicht, ist dies ein starker Hinweis auf das Vorliegen von Vernachlässigung und damit Kindeswohlgefährdung. In diesem Fall sollte das Jugendamt eingeschaltet werden.

An wen können sich Behandler bei Verdacht auf Dental Neglect wenden?
Prof. Pfleiderer: Bei einem starken Verdacht auf Kindesvernachlässigung sind Zahnärzte seit 2021 dazu befugt, das Jugendamt einzuschalten. Außerdem gibt es eine medizinische Kinderschutzhotline, bei der sich Zahnärzte, aber auch weiteres medizinisches Personal, über weiteres Vorgehen und Fragen beraten lassen können.

Welche Schritte sollten nach der Identifizierung eines von häuslicher Gewalt Betroffenen eingeleitet werden? Welche Rolle spielt der forensische Befundbogen für eine gerichtsfeste Dokumentation?
Prof. Pfleiderer: Es ist wichtig, zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen zu unterscheiden. Im ersteren Fall sollte die Kinder- und Jugendhilfe eingeschalten werden, da eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Bei Erwachsenen hingegen darf man ohne Zustimmung der Betroffenen weder Informationen weitergeben, noch die Polizei informieren, da dies die Schweigepflicht verletzen würde. Verletzungsmuster sollten stets mittels eines forensischen Befundbogens dokumentiert werden. Dieser sollte auch ausgefüllt werden, falls die Betroffene keine Anzeige erstatten möchte. Wenn sich ein Patient zu einem späteren Zeitpunkt entscheidet zur Polizei zu gehen, ist dieser dann oft entscheidend und ein wichtiges Beweismittel. 2023 wurde eine aktualisierte Neuauflage des forensischen Befundbogens speziell für Zahnmediziner veröffentlicht, die eine umfassende und präzise Dokumentation sämtlicher Verletzungsmuster ermöglicht.

Vielen Dank für das aufschlussreiche
Gespräch.

Das Interview führte Tanja Kempf.

Tipp:
Indikatoren für häusliche Gewalt können im Kopf-, Gesichts- und Halsbereich auftreten

Bei Erwachsenen sind Verletzungen im Kopf-Hals-Gesichtsbereich wichtige Indikatoren für häusliche Gewalt. Zahnärzte und Kieferchirurgen sollten in der Lage sein, ein maxillofaziales Trauma als einen möglichen Indikator für häusliche Gewalt zu erkennen. Dies umfasst Verletzungen der Weichteile oder Knochen des Gesichts, die durch traumatische Ereignisse wie Stürze, Kollisionen oder Schläge verursacht werden können. Aus mehreren Studien geht hervor, dass Kiefer- und Gesichtstraumata bei Frauen in 50 Prozent der Fälle mit häuslicher Gewalt verbunden sind, wobei in 60 Prozent der Fälle das mittlere Drittel des Gesichts am stärksten betroffen ist. Die genaue Beschreibung der möglichen Verletzungsmuster ist an dieser Stelle nicht möglich, können aber in der Trainingsplattform (siehe unten) nachgelesen werden.

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