Interview

Einblicke

17.06.25

Mehrwert oder Mythos?

KI in der dentalen Röntgendiagnostik

KI, Künstliche Intelligenz, Röntgendiagnostik

Natascha Brand

Wie weit funktioniert künstliche Intelligenz in der dentalen Diagnostik im Praxisalltag wirklich? Während der Hype darum abklingt, bleibt KI dennoch ein spannendes Thema mit großem Potenzial. Dr. Dr. Dennis Rottke, Experte für Diagnostik und President Elect der European Academy of Dentomaxillofacial Radiology, spricht über die aktuellen Möglichkeiten und Grenzen von KI-basierten Befundungssoftware-Lösungen. Er erklärt, warum Erfahrung weiterhin unverzichtbar bleibt, wie KI den Workflow optimieren könnte und welche Herausforderungen noch gelöst werden müssen.

Herr Dr. Rottke, wie bewerten Sie den aktuellen Entwicklungsstand von KI-Lösungen in der dentalen Röntgendiagnostik?
Dr. Dennis Rottke:
Vor etwa sechs Jahren wurden die ersten Lösungen auf Kongressen präsentiert, und kurz vor der Corona-Pandemie erreichte das Thema einen Höhepunkt. Seitdem hat der Hype allerdings spürbar nachgelassen – Anbieter, die damals Vorreiter waren, sind heute kaum noch präsent. Das liegt vor allem daran, dass die Erwartungen der Anwender bislang nicht erfüllt wurden. Für den Einsatz in der Praxis müssen solche Anwendungen entweder Zeit sparen, Kosten reduzieren oder einen klaren Vorteil für die Patientenversorgung bieten – und genau das ist aktuell nur bedingt der Fall. Was die Zuverlässigkeit betrifft, können die derzeit verfügbaren Lösungen einfache Befunde, wie sie auch einem unerfahrenen Anwender auffallen würden, durchaus gut erkennen. Schwieriger wird es jedoch bei selteneren, aber potenziell bedrohlichen Pathologien. Hier fehlt es den KI-Lösungen noch an der Präzision, um eine verlässliche Unterstützung zu bieten. Weder Behandler noch Patienten können sich derzeit vollständig darauf verlassen.

Welche Aufgaben kann eine KI-basierte Software in der zahnmedizinischen Diagnostik bereits heute zuverlässig übernehmen?
Dr. Rottke:
KI-basierte Software kann heute bereits zuverlässig bei der Erstellung eines radiologischen Basisbefundes unterstützen. Sie erkennt sowohl auf 2D- als auch auf 3D-Aufnahmen relativ zuverlässig parodontale Läsionen, Veränderungen an den Wurzelspitzen sowie Füllungsmaterial, prothetische Versorgungen und endodontische Behandlungen.

In welchen Fällen stößt KI-basierte Software an ihre Grenzen?
Dr. Rottke:
KI stößt bei der Befundung – sowohl von 2D- als auch von 3D-Aufnahmen – immer dann an ihre Grenzen, wenn es um Pathologien geht, die selten, aber dennoch therapiepflichtig sind. Dazu zählen insbesondere Raumforderungen. Das Hauptproblem liegt darin, dass solche Befunde im Kopf- und Halsbereich eher selten auftreten. Dadurch stehen der KI nur sehr wenige Trainingsdaten zur Verfügung, um diese zuverlässig zu erkennen. Bei einfacheren Befunden konnte die KI hingegen deutlich besser trainiert werden, da hierfür wesentlich mehr Daten verfügbar sind.

Wie kann ein Zahnarzt sicherstellen, dass die Ergebnisse einer KI-basierten Software korrekt sind?
Dr. Rottke:
Es gibt keine Kontrollmechanismen, die Ergebnisse einer KI-basierten Software zu validieren. Der Zahnarzt selbst muss in der Lage sein, die Vorschläge der KI zu überprüfen – und das ist nicht nur eine fachliche, sondern auch eine rechtliche Verpflichtung. In Deutschland, wie auch in den meisten anderen Ländern, gilt: Jeder Output der KI muss vom Anwender verifiziert werden. Das Problem dabei ist, dass der Zahnarzt selbst über das nötige Wissen verfügen muss, um Pathologien zu erkennen und die Ergebnisse der KI zu bewerten. Fehlt dieses Wissen, kann auch die KI nicht sinnvoll genutzt werden. Hier zeigt sich eine Schwachstelle, die bereits in der Ausbildung beginnt: Die Bildgebung wird in Deutschland noch immer eher stiefmütterlich behandelt, was es vielen Anwendern erschwert, die notwendigen Kompetenzen aufzubauen.

… also ist eine KI-basierte Befundungssoftware kein gutes Hilfsmittel für befundungsunerfahrene Behandler?
Dr. Rottke:
Ja, eine KI-basierte Befundungssoftware ist für unerfahrene Behandler nicht geeignet. Ohne Know-how und Erfahrung lassen sich die Ergebnisse der KI nicht korrekt verifizieren, ähnlich wie bei den ersten Planungssoftwares für die Implantologie, die nur mit fundiertem Wissen sinnvoll nutzbar waren.

Ein besserer Ansatz wäre, KI als Lerntool einzusetzen, um junge Behandler anhand bekannter Pathologien auszubilden. Derzeit müssen Anwender jedoch jedes KI-Ergebnis selbst überprüfen und rechtlich dafür einstehen – für Anfänger schlicht nicht machbar.

Hinzu kommen Probleme wie hohe Kosten, Zeitaufwand und Datenschutzfragen. Besonders bei 3D-Daten ist unklar, wo die sensiblen Patientendaten landen und wie sie verwendet werden. Zudem hängt die Qualität der KI stark von korrekt gelabelten Trainingsdaten ab, was nicht immer gewährleistet ist. Am Ende bleibt die Verantwortung beim Anwender – eine große Herausforderung ohne ausreichende Erfahrung.

Stichwort patientenindividuelle Strahlenreduktion: Wie kann KI bei der Optimierung von Low-Dose-Protokollen helfen?
Dr. Rottke:
Die patientenindividuelle Strahlenreduktion ist ein äußerst spannendes Feld, in dem KI bereits jetzt vielversprechende Ansätze bietet. Besonders bei der Akquisition von Volumentomografien kann KI helfen, die Strahlenbelastung zu senken. Derzeit nehmen die Geräte während eines Akquisitionsvorgangs mehrere Hundert Bilder auf. Mithilfe von KI lässt sich die Anzahl der notwendigen Projektionen reduzieren – und damit auch die Dosis, die der Patient erhält.

Ein weiterer Ansatz ist die Artefakt-Reduktion, bei der KI in Zukunft eine noch größere Rolle spielen wird. Davon profitieren vor allem strahlenempfindliche Patienten, wie Kinder, deren Gewebe aufgrund der höheren Zellteilungsrate besonders sensibel auf Strahlung reagiert.

Neben der Strahlenreduktion kann KI auch die Bildqualität erheblich verbessern. Rein technische Prozesse wie die Erkennung und Eliminierung von Bildrauschen, die Optimierung von Kontrast und Auflösung sind Bereiche, in denen KI ihre Stärken ausspielt. Diese Aufgaben sind für KI einfacher zu bewältigen, da sie weniger von dem variablen Vorkommen und Erkennen von Pathologien bei Patientenaufnahmen abhängen, sondern stattdessen auf klar definierte technische Parameter fokussiert sind.

Inwiefern können Zahnärzte von einer Zusammenarbeit mit Diagnostikexperten profitieren, wenn sie KI-Systeme in ihrer Praxis einsetzen?
Dr. Rottke:
Die Zusammenarbeit mit einem Diagnostikexperten kann für Zahnärzte, die KI-Systeme einsetzen, durchaus sinnvoll sein – insbesondere, wenn die KI eine Pathologie erkennt. In solchen Fällen ist es ratsam, einen Experten hinzuzuziehen, um die Ergebnisse der KI zu verifizieren. Genau hier sehe ich die Schnittstelle zwischen KI, Zahnarzt und Diagnostikexperten: Die KI liefert einen ersten Hinweis, der dann durch die Expertise eines Spezialisten abgesichert wird.
Allerdings stellt sich die Frage, wie weit KI überhaupt schon in der zahnärztlichen Praxis verbreitet ist. In Deutschland werden jährlich etwa 60 bis 70 Millionen Röntgenaufnahmen in der Zahnmedizin erstellt – ein enormer Markt, verteilt auf rund 40 000 Zahnarztpraxen. Doch wenn ich in meinen Kursen zur Aktualisierung der Fachkunde im Strahlenschutz frage, wer KI-Software standardmäßig für die Befundung nutzt, melden sich nur sehr wenige. Der Grund liegt darin, dass die Vorteile der KI-Lösungen momentan noch nicht überwiegen. Der anfängliche Hype um zahnmedizinische Befundungssoftware scheint inzwischen deutlich abgeflaut zu sein.

Wie sehen Sie die Rolle eines Diagnostikexperten in einer zunehmend KI-gestützten Diagnostikwelt?
Dr. Rottke:
Befundungsexpertise bleibt mittelfristig auch in der KI-gestützten Diagnostik unverzichtbar. KI kann bei einfachen Aufgaben wie dem Erstellen von Kostenvoranschlägen viel Zeit sparen und den Zahnarzt entlasten, doch bei komplexeren Diagnosen sind Erfahrung und Expertise entscheidend. Unsere Aufgabe sehe ich darin, Zahnärzte dabei zu unterstützen, fundierte Entscheidungen zu treffen. Mit mehr als 20 Jahren Erfahrung in der Befundung kann ich beispielsweise eine Sicherheit einbringen, die KI-Modelle aktuell noch nicht bieten können. In Zukunft wird ein großer Teil unserer Arbeit darin bestehen, KI-Vorschläge zu verifizieren und so die Diagnosesicherheit weiter zu stärken.

Sie sind President Elect der European Academy of Dentomaxillofacial Radiology. Welche Fortschritte erwarten Sie in den nächsten Jahren bei der Integration von KI in die dental-radiologische Diagnostik?
Dr. Rottke:
Ich erwarte große Fortschritte bei der Integration von KI in die dental-radiologische Diagnostik. Ähnlich wie vor 20 Jahren bei der Einführung der Volumentomografie sehen wir aktuell einen starken Fokus auf KI in der Forschung. Viele Gruppen arbeiten an spezifischen Fragestellungen, wie der Optimierung von Algorithmen oder der Verlässlichkeit von Diagnosen. Die größte Herausforderung wird sein, diese punktuellen Ergebnisse aus Einzelstudien zu einer umfassenden Lösung zusammenzuführen. Die European Academy of Dentomaxillofacial Radiology bietet dabei eine wichtige Plattform, um den Austausch und die Vernetzung der Wissenschaftler voranzutreiben und so die Entwicklung weiter zu beschleunigen.

Wie könnte sich denn die größere Lösung, von der Sie sprechen, auf die tägliche Praxis für den Behandler auswirken?
Dr. Rottke:
Eine solche Lösung würde den Workflow in der Praxis erheblich vereinfachen und Zeit sparen – ein zentraler Punkt für Behandler. KI könnte bereits bei der Aufnahmeerstellung unterstützen, bessere Bilder liefern und Pathologien gezielt hervorheben. Besonders bei der Dokumentation, die aktuell oft mühsam, zeitaufwendig und in vielen Praxen ein „Pain Point“ ist, könnte KI enorm helfen.

Das Ziel wäre ein durchgängiger Prozess: Von der strahlungsarmen Aufnahme über effizientes Datenmanagement bis hin zur automatisierten Befundung und Dokumentation. Derzeit bestehen die Workflows aus vielen einzelnen Tools verschiedener Hersteller, was unnötig kompliziert ist. Eine integrierte Lösung würde hier den größten Mehrwert schaffen.

Vielen Dank für das interessante ­Gespräch, Herr Dr. Rottke.

Dr. Dr. Dennis Rottke ist seit 2010 niedergelassen im Digitalen Diagnostikzentrum GmbH, Freiburg im Breisgau. Er fokussiert Dienstleistungen für Zahnmediziner, unter anderem: Befundungs-Service für DVT und PX, DVT-Fachkundekurse, Aktualisierungskurse, Befundungs-Bootcamp und Beratung.

Hier geht´s zur Videoreihe „Befundungs-Bootcamp“/Dental Online College

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