Anwenderbericht

Falldokumention

20.10.21

Risikofaktor Parodontitis

Parodontitis und ihre Wechselwirkung mit dem Gesamtorganismus

Ätiopathogenese, bakterielle Homöostase, Immunmikrobiologie, Parodontitis, Risikofaktoren

Dr. Alexander Müller-Busch MSc, Dr. Nadja Tzinis MSc

01 – Ideale entzündungsfreie Situation

Bei der Ätiopathogenese der Parodontitis auf molekularer und zellulärer Ebene handelt es sich um eines der modernsten Gebiete der Parodonto­logie. Die Erforschung von neuen zellulären Interaktionen und der Wirtsantwort führen zu einem verbesserten Verständnis der Ätiologie der Parodontitis und kann nicht nur neue präventive, sondern auch diagnos­tische und therapeutische Möglichkeiten eröffnen. Der vorliegende Artikel, soll einen aktuellen Einblick in die Interaktion der Parodontitis mit dem Gesamt­organismus geben und die immunomikrobiologische Pathogenese der Parodontitis und deren Risikofaktoren zeigen

Frage zur Therapie

Wie kann eine unbehandelte schwere Parodontitis Einfluss auf das Herz­infarktrisiko nehmen?
Dr. Alexander Müller-Busch: Die erhöhte Entzündungslast zeigt ihren negativen Einfluss nicht nur in der Mundhöhle, sondern auch im Bereich der Gefäße und des Magen-Darm-Trakts. Die Gefäße sind permeabler und anfälliger für Plaques. Im Magen sowie im Darm werden Nährstoffe nicht mehr wie vorgesehen aufgenommen. Eine Ernährungsumstellung sowie PA-Therapie können helfen.

Ätiologie und Pathogenese der Parodontitis
Die Parodontitis ist eine entzündliche Erkrankung des Zahnhalteapparats, die mit Attachmentverlust verbunden ist. Bei der Parodontitis handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen, maßgeblich verursacht durch parodontalpathogene Mikroorganismen sowie deren subgingivale Produkte und Bestandteile. Die zahlreichen molekularen und zellulären Prozesse bei der Entstehung und der Progression der Parodontitis sind ex­trem komplex und noch nicht vollständig entschlüsselt. Aufgrund des vermehrten Zahnerhalts und der ansteigenden Weltbevölkerung ist die globale Belastung durch schwere Parodontitis zwischen 1990 und 2013 um 67 Prozent angestiegen [10]. Diese Entwicklung zieht enorme ökonomische Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme nach sich [31].
Als erste Bakterienart siedeln sich orale Streptokokken am Zahnpellikel an, worauf Aktinomyceten und Veillonellen folgen. Diese Bakterienarten zählen zu den sogenannten „Frühbesiedlern“ des Biofilms, wogegen Porphyromonas gingivalis, Treponemen und Aggregatibacter actinomycetemcomitans zu den „Spätbesiedlern“ gehören. Das Fusobacterium nucleatum spielt als Brückenkeim zwischen den frühen und späten Plaquebesiedlern eine wichtige Rolle [28]. Die Abbildungen 1 und 2 zeigen unterschiedliche gingivale und parodontale Zustände, von idealer entzündungsfreier Situation bis hin zu schwerer überschießender Entzündungsreaktion. 1998 wurden durch Socransky und seine Mitarbeiter die jeweils in einem engen Zusammenhang stehenden Bakterien zu sechs Komplexen zusammengefasst, die entsprechend ihrer Pathogenität farblich unterschiedlich kodiert wurden (Abb. 3) [37]. Dabei zählen die Bakterien des blauen (Aktinomyzeten), des gelben (Streptokokken) und des violettfarbenen Komplexes zu den frühen Plaquebesiedlern. Der orangefarbene Komplex fasst die Bakterienspezies mit Brückenfunktionen zusammen. Zu diesem Komplex zählen neben dem Fusobacterium nuclea­tum auch Campylobacter rectus, Eubacterium nodatum, Parvimonas mi­cra und Prevotella intermedia. Der rote Komplex enthält die mit einer Parodontitis stark assoziierten Bakterien Porphyromonas gingivalis, Tannerella forsythia und Treponema denticola. Daneben existiert noch ein grüner Komplex, der Aggregatibacter actinomycetemcomitans enthält.


Im Biofilm existiert daneben noch eine Vielzahl weiterer Bakterienspezies, die erst durch neuere Sequenzierungsmethoden identifiziert worden sind [25]. Parodontalpathogene Bakterien weisen sogenannte Virulenzfaktoren auf [12, 2]. So besitzt beispielsweise Aggregatibacter actinomycetemcomitans die Fähigkeit, Leukotoxin zu produzieren. Leukotoxin führt in hoher Konzentration bei Granulozyten, Monozyten und Lymphozyten zu einer Porenbildung und somit zur Zelllyse [12].
Porphyromonas gingivalis, ­Tannerella forsythia und Treponema denticola produzieren eine Vielzahl von Proteasen [13]. P. gingivalis synthetisiert zum Beispiel Cysteinproteasen (Gingipaine), die diesem Bakterium zur Bereitstellung eigener Nahrung und zum Eindringen ins parodontale Gewebe dienen. Darüber hinaus sind Gingipaine in hohem Maße an der Modulation der Wirtsabwehr beteiligt [11]. T. denticola ist hoch beweglich und wirkt zytotoxisch [16]. Über die Virulenzfaktoren von T. forsythia sind bisher sehr wenig bekannt. Kürzlich wurde jedoch eine Protease beschrieben, die in der Lage ist, Bindegewebe abzubauen und LL-37, ein antimikrobielles Peptid, zu spalten [29].
In der Regel werden die oralen Mikroorganismen in ihrem Wachstum und in ihrem Angriffspotenzial gut kontrolliert. Parodontalpathogene Mikroorganismen können jedoch die Entstehung und Progression einer Parodontitis induzieren, indem sie die Wirtsabwehr zum Teil umgehen, unterdrücken, fehlleiten oder aber vor allem eine überschießende Wirtsantwort hervorrufen. Bei der Wirtsantwort handelt es sich um aktive Prozesse, die durch einen mikrobiellen Angriff ausgelöst werden. Unterschieden werden dabei die innate (angeborene) und eine ­adaptive (erworbene) Wirtsantwort. Pathogene Mikroorganismen sind eine notwendige, jedoch nicht die alleinige Bedingung für die Entstehung und Progression einer Parodontitis.
Als komplexe multifaktorielle Erkrankung werden die Entstehung und der Verlauf der Parodontitis zudem von einer Reihe von modifizierbaren und nicht modifizierbaren Risikofaktoren beeinflusst. Es sind beispielsweise Rauchen, genetische Disposition, systemische Erkrankungen und psychischer Stress zu nennen. Das beeinflusst die Symbiose, und es stellt sich eine Dysbiose ein, die durch das Beibehalten der externen negativen Einflussfaktoren weiter Aufschwung erhält. Infolgedessen kommt es zum Zusammenbruch der benefiziellen Beziehung, was sich gesundheitsschädlich auswirkt und intraoral durch den Abbau von Bindegewebe und Alveolarknochen sichtbar wird [3, 5, 19, 24, 27, 32, 33, 35].
Eine sogenannte antiinfektiöse Therapie, bei der in regelmäßigen Abständen der Biofilm gründlich entfernt wird, kann zur Abheilung der Entzündung und zur Wiederherstellung einer Symbiose führen (Abb. 4) [32]. Dabei ist ein zurückhaltender und verantwortungsvoller Umgang mit Antibiotika zu berücksichtigen, um die benefizielle Mikroflora zu erhalten und vermehrte antibiotische Resistenzen zu vermeiden [18].
Nachfolgend werden sowohl einige systemische als auch individuelle Patientenfaktoren beschrieben, die das Risiko für die Entstehung einer Parodontitis beeinflussen. Bei Patienten ohne eine Disposition für Parodontitis ist eine angemessene Entzündungsantwort im Rahmen einer Gingivitis die Folge und die Entzündung selbstauflösend, während bei anfälligen Patienten multiple Risikofaktoren eine überschießende, aber in­effektive und sich nicht wieder auflösende Entzündung im bindegewebigen Zahnhalteapparat auslösen. Unterschieden werden nicht modifizier­bare Risikofaktoren (genetische Faktoren), modifizierbare Risikofaktoren – dazu zählen Lifestylefaktoren wie Rauchen und Ernährung – sowie erworbene Faktoren wie Diabetes mellitus. Insbesondere bei einem vorliegenden nicht eingestellten Diabetes mellitus beeinflusst die metabolische Fehlregulation die Entzündungsantwort, was zu einem hoch inflammatorischen Zustand und zu einem beschleunigten parodontalen Gewebeabbau führt (Abb. 5). Diese Mechanismen wurden von Dommisch et al. ausführlich beschrieben [6]. Aber auch die unbehandelte Parodontitis hat einen negativen Einfluss auf den Diabetes, denn in diesen Fällen kommt es häufiger zu Entgleisungen des Blutzuckerspiegels und einer schwierigeren Einstellung auf ein Normalniveau.
Studien zeigen, dass die Parodontitis auch durch die Ernährung beeinflusst werden kann [14, 1]. So konnte eine umgekehrte Assoziation zwischen der Einnahme und den Plasmakonzentrationen von Vitamin C und der Parodontitisprävalenz gezeigt werden [38]. Niedrige Spiegel an Omega-3-Fettsäuren korrelieren mit stärkerer Parodontitis [17] und eine kohlenhydratreiche Diät kann die Blutungsneigung der Gingiva erhöhen [15, 39]. Die Zusammenhänge zwischen Parodontitis und Ernährung sind in einem Beitrag von Wölber und Tennert [40] und bezogen auf Probiotika und parodontale Therapie in einem Beitrag von Schlagenhauf näher ausgeführt worden [36].
Mit zunehmendem Alter liegt eine erhöhte Parodontitisprävalenz vor [22, 4]. In der Immungerontologie bezeichnet Immunseneszenz die Abnahme der Leistung des Immunsystems mit zunehmendem Alter. Als „Inflamm-aging“ ist ein chronischer Entzündungsprozess als Altersphänomen beschrieben, der durch die Zunahme proinflammatorischer Zytokine und Akute-Phase-Proteine mit zunehmendem Alter gekennzeichnet ist [9]. Der komplexe Zusammenhang zwischen Altern und Parodontitis ist aufgrund zahlreicher Medikationen und Komorbiditäten nicht einfach zu entschlüsseln.

Einfluss der Parodontitis auf den Gesamtorganismus
Frühgeburten
Eine unbehandelte schwere Parodontitis ist ein Zeichen für fehlgesteuerte Mechanismen. In gesunden Individuen findet eine unbehandelte schwere Parodontitis automatisch ein Ende und geht nicht in eine Art Teufelskreis über, in dem die Destruktion selbst weiter angefacht wird. Und die Problematik geht weiter, denn eine Parodontitis ist nicht nur ein Zeichen für Fehlregulation, sie fördert die Fehlregulation sogar aktiv. Dies lässt sich am Beispiel von Frühgeburten, speziell untergewichtigen Frühgeburten, erklären. Bei schweren unbehandelten Formen der Parodontitis gelangen proinflammatorische Zytokine in teils hoher Konzentration ins Blut. Unter ihnen sind TNF-α und PGE2, die mitunter Auslöser der Geburtswehen sind. Wird ein Grenzwert überschritten und werden die Wehen eingeleitet, kann dies drastische Folgen haben [8, 26, 34]. Da die Behandlung der Parodontitis während der Schwangerschaft möglich, jedoch je nach Trimenon ebenfalls mit Risiken verbunden ist, sollte möglichst vor dem Kinderwunsch die Behandlung begonnen und abgeschlossen werden, um die Risiken so weit wie möglich zu reduzieren.

Herzinfarkt
Die hohe Entzündungslast hat nicht nur einen Einfluss auf die oralen Gewebe, sondern auch auf die Blutgefäße. Untersuchungen zeigten, dass die Gefäße bei Patienten mit Parodontitis stärker verändert sind als in den gesunden Kontrollgruppen. Neben einer erhöhten Pulswellengeschwindigkeit wurde ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen festgestellt und regelmäßige kardiale Kontrolluntersuchungen wurden empfohlen [20, 21].

Schlaganfall
Hirninfarkte haben massive Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen sowie ihrer Angehörigen. Auch bei gering ausgeprägten Vorfällen steht den Patienten häufig ein längerer Regenerationsprozess bevor. Moderne Therapieoptionen und die schnell verfügbare medizinische Versorgung haben dazu beigetragen, dass Patienten, die einen Hirninfarkt erlitten haben, ein normales Leben führen können. Neben diversen Risikofaktoren stellt die Parodontitis einen unabhängigen Risikofaktor sowohl für die Entstehung als auch für den Verlauf eines Hirninfarkts dar. Patienten mit einer Parodontitis haben ein mehrfach erhöhtes Risiko [7, 30].

Zusammenfassung
Die Erforschung der Ätiopathogenese der Parodontitis auf molekularer und zellulärer Ebene führte in den vergangenen Jahren zu einem verbesserten Verständnis der destruktiven Vorgänge der Parodontitis allein sowie der wechselseitigen Einflüsse mit dem Gesamtorganismus. Obwohl die Wirtsabwehr das Ziel verfolgt, die parodontale Infektion zu eliminieren und einzudämmen, kann sie selbst maßgeblich zur parodontalen Destruktion beitragen. Der für die Abwehrzellen benötigte Platz wird durch Knochen- und Kollagenabbau und assoziierten Attachmentverlust bereitgestellt. Wird in diesen Prozess nicht durch therapeutische Maßnahmen eingegriffen, führt dies zur Zerstörung des Parodonts, was letztlich zu Zahnverlust führen kann.
Weitere wissenschaftliche Fortschritte der Ätiopathogenese der Parodontitis werden auch in Zukunft verbesserte individuelle Risikoeinschätzungen für eine zielgerichtete Prävention und personalisierte Therapieansätze ermöglichen. Dies ist besonders wegen des Anstiegs und der Vielzahl an modifizierbaren und nicht-modifizierbaren Risikofaktoren essen­ziell. Dazu gilt es vor allem neue präventive, diagnostische und therapeutische Verfahren zu entwickeln, für die die weitere Erforschung der komplexen pathogenetischen Zusammenhänge unentbehrlich ist. Als Basis dafür war die Einführung der neuen Klassifikation ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Literaturverzeichnis unter
www.teamwork-media.de/literatur

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