Fachbericht

Themen & Materialien

05.01.22

S1-Leitlinie als Living-Guideline

Umgang mit zahnmedizinischen Patienten bei Belastung mit Aerosol-übertragbaren Erregern

Aerosol-übertragbare Erreger, Hygiene, Seniorenzahnmedizin

Dr. Lena Katharina Müller, Priv.-Doz. Dr. Dr. Julia Heider

01 – Persönliche Schutzausrüstung (PSA)

Im Umgang mit COVID-19 sieht sich unsere Gesellschaft immer wieder neuen Herausforderungen gegenübergestellt. Gerade Zahnärzte sind durch den nahen Kontakt zum Mund des Patienten und der damit verbundenen erhöhten Aerosolfreisetzung in besonderem Maße ausgesetzt. Der Schutz vor Übertragung von Krankheitserregern zwischen Patienten untereinander, aber auch zwischen Patienten und dem Praxispersonal und Zahnärzten ist ein zentraler Punkt der gut etablierten Hygienevorschriften in den Zahnarztpraxen. Mit der Erstellung der S1-Leitlinie „Umgang mit zahnmedizinischen Patienten bei Belastung mit Aerosol-übertragbaren Erregern“ wurde dieses Thema in Bezug auf SARS-CoV-2 adressiert und durch die Gestaltung der Leitlinie als „Living-Guideline“ wird diese in kurzen Abständen aktualisiert und anwenderfreundlich weiterentwickelt (www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/083-046.html).

Auswirkungen der COVID-Pandemie auf Senioren
Die Ausbreitung von COVID-19 wurde am 11.03.2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Um Infektionszahlen niedrig zu halten und somit schwere und letale Verläufe der Erkrankung zu minimieren, wurden tiefgreifende Maßnahmen in die Wege geleitet. Die Auswirkungen der Maßnahmen gingen notwendigerweise einher mit sozialer Isolation und Einsamkeit, insbesondere für die am stärksten gefährdeten Gruppen: ältere Erwachsene, Senioren, Menschen in Langzeitpflege und Altenheimen und Risikopatienten. Daraus resultierten Folgen für die öffentliche Gesundheit und die Rate an Depressionen erhöhte sich [1]. Ältere Erwachsene, von denen eine beträchtliche Anzahl an chronischen Erkrankungen und Komorbiditäten leidet, sind daher nicht nur einem höheren Risiko für schwere COVID-19 Verläufe ausgesetzt als die Allgemeinbevölkerung, sondern auch den Folgen der sozialen Isolation und einer erhöhten Rate an Depressionen. Weitere indirekte Auswirkungen der Pandemie und ihrer Restriktionen auf die ältere Bevölkerungsgruppe zeigen sich durch verschobene Routineuntersuchungen, zu denen auch der Zahnarztbesuch gehört. Zudem wirken sich soziale Isolation, Einsamkeit und Depressionen negativ auf die Mundgesundheit sowie die mundbezogene Lebensqualität aus. Es zeigt sich insbesondere ein Zusammenhang von Karies, Zahnverlust und Zahnlosigkeit, sowie Parodontitis und dem Risiko depressiver Symptome bei älteren Menschen [2]. Darüber hinaus trägt die in dieser Alterskohorte häufig vorliegende Polypharmazie zusätzlich zu einem erhöhten Risiko für orale Erkrankungen bei [3].
Aus diesen Gründen dürfen die Folgen der bisherigen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sowie das aktuell empfohlene Maßnahmenbündel zur Infektionsprävention in der zahnärztlichen Praxis insbesondere im Hinblick auf die ältere Bevölkerungsgruppe nicht losgelöst betrachtet werden. Gerade in Bezug auf die älteren Bevölkerungsgruppen sollten sie im Kontext der hieraus ­resultierenden Bedürfnisse bezüglich der oralen Gesundheit betrachtet werden. Im Folgenden propagieren die Autorinnen daher, zahnärztliche Behandlungen und notwendige Untersuchungen im Rahmen des jeweiligen aktuellen Pandemiegeschehens und unter Einhaltung aller hygienischen Vorkehrungen (Abb. 1 bis 3)
insbesondere für die vulnerablen Bevölkerungsgruppen nicht aufzuschieben. Es ist zudem bekannt, dass die vulnerablen Bevölkerungs­gruppen überwiegend vollständig geimpft sind, was einen zusätzlichen Schutz vor schweren und letalen Verläufen einer Corona-Erkrankung bietet. Ist eine stationäre ­Therapie (z.B. aufgrund einer Antiresorptiva-assoziierten Kiefernekrose) indiziert, wird zum aktuellen Zeitpunkt flächendeckend – unabhängig vom Impfstatus der Patienten – ein negativer, aktueller Corona­test (Polymerase-Ketten Reaktion, PCR) verlangt. Die Testung kann vor allem von bettlägerigen oder immobilen Patienten und deren Angehörige nicht immer problemlos organisiert werden, sodass in einem solchen Fall bereits bei der Planung der stationären Aufnahme die Organisation und Durchführung des Testes besprochen werden sollte. In Ausnahmefällen, wenn aus organisatorischen oder aus Gründen einer notfallmäßigen statio­nären Einweisung kein Test bei stationärer Aufnahme durchgeführt werden kann, so erfolgt eine Isolation der Patienten bis zur Vorlage eines negativen Test­ergebnisses (Abb. 4).

Mundhygiene und SARS-CoV-19
Mangelnde Mundhygiene ist als Risikofaktor für den Erwerb viraler Infektionen bekannt. Da ältere Menschen häufig aufgrund motorischer und kognitiver Einschränkungen keine optimale Mundhygiene ausüben können [4], sollte dieser Faktor im Rahmen der Prävention besprochen und optimiert werden. Am häufigsten wird bei älteren Menschen über bakteriell besiedelte weiche und harte Beläge des Zahn- und Zahnhalteapparats berichtet [5], die in parodontalen Schädigungen der Zähne resultieren und somit konsekutiv zu Zahnverlust, systemischen Nebenwirkungen der chronisch parodontalen Entzündung und systemisch zirkulierenden parodontalen Bakterien führen. In einer Meta-Analyse von Peng et al. zeigte sich, dass Zahnverlust zudem ein unabhängiger Risikomarker für die Gesamtmortalität darstellt [6]. Dieser Zusammenhang muss jedoch durch große prospektive Studien weiter evaluiert werden. In einer weiteren Studie konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass schlechte orale Hygiene ein unabhängiger prädiktiver Faktor für eine erhöhte Mortalität nach Hospitalisierungen ist [7]. Auch in Bezug auf SARS-CoV-2 Infektionen wurden relevante Zusammenhänge zum Status der Mundhygiene gefunden. Eine schlechte Mundhygiene kann das Risiko einer Pneumonie, eines akuten Atemnotsyndroms, einer Sepsis sowie konsekutiv eines septischen Schocks und Todes bei an SARS-CoV-2-erkrankten älteren Menschen erhöhen [8].
In einer Fallkontrollstudie mit 568 Patienten konnte zudem ein erhöhtes Risiko für die Aufnahme auf die Intensivstation, Notwendigkeit einer assistierten Beatmung und Tod von COVID-19-Patienten bei Patienten mit einer Parodontitis gefunden werden [9]. Epidemiologische, experimentelle und interventionelle Studien haben gezeigt, dass das Vorhandensein einer Parodontitis auch die systemische Gesundheit beeinträchtigen kann [10-12]. Aus diesem Grund empfiehlt sich die Optimierung der Mundhygiene bei älteren Menschen, da diese ein wichtiger Baustein im Rahmen der Prävention von Erkrankungen ist.
Bei mit SARS-CoV-2-infizierten Menschen wurden Fälle von Läsionen der Mundschleimhaut und des Oropharynx, zumeist in Form von herpetischen Ulzerationen und Erythemen dokumentiert, die sowohl keratinisiertes als auch nichtkeratinisiertes Gewebe betrafen [13]. Da SARS-CoV-2-infizierte Personen eine höhere Viruslast im Speichel, im Oropharynx, in den Nasengängen und in den oberen Atemwegen aufweisen [14], empfiehlt sich zusätzlich zur optimierten Mundhygiene die regelmäßige Anwendung einer Mundspülung, da diese potenziell die Viruslast im Rachen und oralen Raum senken könnten und vor allem Mikroorganismen im Mundraum reduzieren. Die präprozedurale Anwendung von Mundspülungen bekommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. In der S1-Leitlinie „Umgang mit zahnmedizinischen Patienten bei Belastung mit Aerosol-übertragbaren Erregern“ wurde aufgrund der aktuellen Literatur, welche hauptsächlich In-vitro-Untersuchungen beinhaltet, darauf hingewiesen, dass eine klinisch relevante Reduktion der SARS-CoV-2-Infektiosität durch die aktiven Wirkstoffe bzw. Mundspüllösungen noch nicht vollständig geklärt werden konnte [15-17]. In In-vitro-Studien wiesen PVP-Jod, quartäre Ammoniumverbindungen und spezielle Formulierungen ätherischer Öle eine Wirksamkeit gegenüber SARS-CoV-2 auf [18]. In einem Statement wird in der S1-Leitlinie „Umgang mit zahnmedizinischen Patienten bei Belastung mit Aerosol-übertragbaren Erregern“ gemäß des DHAZ-Hygieneleitfadens darauf hingewiesen, „dass durch antiseptische Spülungen der Mundhöhle die Gefahr einer Weitergabe von Krankheitserregern über das Aerosol vermindert wird [19,20]. Hierfür eignen sich CHX 0,2 % sowie CPC 0,05 % oder eine spezielle Formulierung ätherischer Öle [19].“

Hygienemaßnahmen in der zahnärztlichen Praxis
Die regelmäßige Durchführung und strikte Anwendung von Hygienemaßnahmen dient seit jeher der Reduktion von ubiquitär vorhandenen Infektionsgefahren durch Mikroorganismen in der Zahnarztpraxis. Das Hygienebewusstsein des zahnärztlichen Personals, aber auch seitens der Patienten wurde durch die COVID-19-
Pandemie nochmals geschärft, insbesondere was potenziell kontaminierte Aerosole angeht. Dabei ist insbesondere auf die Einhaltung aller empfohlenen Maßnahmen zu achten, denn zu einem größtmöglichen Schutz vor der Übertragung einer Infektion in der zahnärztlichen Praxis kann nur die Einhaltung einer lückenlosen Hygienekette führen. Diese beginnt bei der konsequenten Einhaltung der Basishygiene inklusive der Hände- und Körperhygiene über das korrekte Tragen der persönlichen Schutz­ausrüstung (PSA) (s. Abb. 1 bis 3), bis hin zur Flächen­desinfektion. Durch die Übertragung von SARS-CoV-2 via Tröpfchen und Aerosolen sind Maßnahmen zur Reduktion kleiner Aerosolpartikel im Raum von hoher ­Relevanz. Die natürliche Raumlüftung ist hierbei als effektive Maßnahme mit sehr hohen stündlichen Luftwechselraten (LWR) von bis zu 40 als kosten­günstige und gut umsetzbare Maßnahme zu nennen. Daneben kann für dezentrale mobile Luftreinigungsgeräte (DMLR) ein begrenzter zusätzlicher ­Effekt bei der Reduktion kleinerer Aerosolpartikel im Behandlungszimmer erwartet werden.
Weitere protektive Maßnahmen in Bezug auf zahnärztliche Behandlungen wurden im Rahmen eines Maßnahmenbündels in der S1-Leitlinie „Umgang mit zahnmedizinischen Patienten bei Belastung mit Aerosol-übertragbaren Erregern“ evidenzbasiert zusammengefasst. So führt die an der Behandlungseinheit vorhandene Spraynebelabsaugung, wenn diese mit einer effektiven systematischen Absaugtechnik genutzt wird, zu einer Reduktion des Spraynebelrückpralls sowie der Aerosole [21,22]. Während der Behandlung, auch wenn diese ohne Assistenz realisiert werden kann (z. B. professionelle Zahnreinigung), soll eine konsequente und hochvolumige Absaugung gewährleistet und auf eine durchmesseroptimierte Saugkanüle (≥ 10mm) geachtet werden. Falls möglich, sollte zur Behandlung die Anlage eines Kofferdams erfolgen [23-27]. Nach oder während der Behandlungen soll der Behandlungsraum gelüftet werden.

Fazit
Bei der Behandlung älterer Menschen sollten die direkten sowie die indirekten Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Morbidität und Mortalität in Verbindung mit den psychosozialen Auswirkungen berücksichtigt werden. Die Anforderungen an die Hygieneketten in der Praxis sollten zum Schutz der Patienten und Behandler lückenlos eingehalten werden. Der negative Einfluss der Pandemie durch SARS-CoV-2 auf die mundbezogene Gesundheit der älteren Patienten und der damit verbundenen mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität kann nur grob eingeschätzt werden und sollte in der Versorgung betagter Menschen berücksichtigt werden.

Dr.med. Lena Katharina Müller

  • 2014/ 2018        Approbation Zahnärztin/ Ärztin
  • 2013                 Auszeichnung als Stipendiatin des Stipendiums „Medical Excellence“
  • 2014                  Stipendiatin der Stiftung der deutschen Wirtschaft
  • 2014 Promotion Medizin
  • 2017-2019         Studium Journalismus, Freie Journalistenschule
  • 2019-2020         Wissenschaftliche Mitarbeiterin Poliklinik für Parodontologie
  • 2020- heute      Wissenschaftliche Mitarbeiterin Klinik und Poliklinik für MKG – Plastische Operationen

PD Dr. med. habil Dr. med. dent. Julia Heider

  • 2001/ 2009          Approbation Zahnärztin/ Ärztin
  • 2003/ 2010          Promotion Zahnmedizin/ Medizin
  • 2007/ 2015          Fachzahnärztin ZC/ Fachärztin MKG
  • 2003-2017           Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Poliklinik für Zahnärztliche Chirurgie und der Klinik für MKG – Plastische Operationen
  • 2017                    Oberärztin
  • 2018                    Zusatzbezeichnung Plastische Operationen               
  • 2018                    Habilitation MKG Universitätsmedizin Mainz

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