Interview

Chairside & Praxis

07.06.23

So minimieren Sie das Risiko

Patienten mit Vorerkrankungen erkennen und präventiv richtig behandeln

Arteriosklerose, Diabetes Mellitus, Herzinsuffizienz, multimorbid, Parodontitistherapie, Prävention, Rauchen, therapiekonzepte, Vorerkrankung

Natascha Brand

Die demografische Entwicklung bringt es mit sich, dass eine steigende Zahl von alternden Patienten mit Vorerkrankungen zahnmedizinisch betreut und behandelt werden will. Das heißt für den Zahnarzt: Künftig ist deutlich mehr medizinisches Wissen in der Praxis gefordert, um einen Diabetes, rheumatische oder kardiovaskuläre Vorerkrankungen im Rahmen der zahnärztlichen Therapie richtig einordnen zu können. Prof. Dr. Dirk Ziebolz und PD Dr. Gerhard Schmalz sind Experten für Prävention und ordnen die Erkrankungszustände und deren Auswirkungen auf die zahnärztliche Behandlung ein.

Für die zahnmedizinische Behandlung multimorbider Patienten braucht es Therapiekonzepte und -maßnahmen, die den individuellen Anforderungen dieser wachsenden Patientengruppe gerecht werden. Das ist eine Herausforderung für das gesamte Praxisteam. Drei Punkte sind dabei wichtig; von ihnen profitieren das Praxisteam und der Patient:

  • Sicherheit: Es müssen Rahmenbedingungen für Patienten mit Vor- beziehungsweise Grunder­kran­kungen geschaffen werden, damit sichergestellt ist, dass bei der Behandlung nichts schief gehen kann. Dazu müssen alle im Team die Risiken und Komplikationsmöglichkeiten kennen.
  • Effektivität: Auch die Patienten bringen Rahmenbedingen mit; deshalb sollte sich der Behandler Gewissheit verschaffen, ob die angedachte Behandlung Erfolg hat – oder, ob zunächst die Rahmenbedingungen, die der Patient mitbringt, geändert werden müssen.
  • Effizienz: Kosten-/Nutzen-Verhältnis, Eine individualisierte Behandlung macht für die Praxis auch aus Kosten-Nutzen-Sicht Sinn. Dazu sollten alle im Team die Besonderheiten und Risiken der häufigsten Grunderkrankungen kennen.

Prof. Dr. Dirk Ziebolz und PD Dr. Gerhard Schmalz, beide am Universitätsklinikum Leipzig tätig, erläutern anhand von vier Patientengruppen mit unterschiedlichen Erkrankungszuständen, warum es für den Zahnarzt und das gesamte Praxisteam so wichtig ist, aus Präventionssicht gerade Patienten mit Vor- beziehungsweise Grunderkrankungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, wie man diese Patienten erkennt und was im Hinblick auf die Therapie zu beachten ist.

Patienten mit rheumatischen ­Grunderkrankungen

Herr Prof. Ziebolz: In welchen parodontalen Erkrankungszuständen finden sich die Manifestationen rheumatoider Arthritispatienten wieder?
Prof. Dr. Dirk Ziebolz: Patienten mit rheumatoider Arthritis haben häufig schwerere Formen einer Parodontitis sowie erhöhten Zahnverlust; zudem liegt häufig eine manifestierte Mundtrockenheit vor.

Welche klinischen Konsequenzen hat das auf die symptombezogene Behandlung wie die Entfernung von Biofilm?
Ziebolz:
In Abhängigkeit vom Bakteriämierisiko, unter Berücksichtigung von Mundgesundheitszustand und geplantem zahnärztlichen Eingriff, insbesondere beim AIT/SRP, kann eine Antibiotikaprophylaxe zur Vermeidung eines Komplikationsrisikos erforderlich sein.

Heute scheint schwerpunktmäßig das Rauchen und der Diabetes Mellitus von Bedeutung zu sein. Wo können wir den rheumatoiden Arthritispatienten in der neuen Bewertung der Parodontitis einordnen?
Ziebolz:
Das ist insgesamt vielschichtig und nicht so einfach zu beantworten, da neben der Grunderkrankung auch die häufig multiple immunsuppressive Therapie von Bedeutung sein kann. Entsprechend sollte bei der Einordnung des Progressionsrisikos, dem Grading, eine kritische Bewertung erfolgen und zwischen Grad B und C abgewogen werden.

Es scheint eine Bidirektionalität beziehungsweise gewisse Gemeinsamkeiten zwischen Parodontitis und rheumatoider Arthritis zu geben. Wie kann eine Parodontitis Einfluss auf eine rheumatoide Arthritis nehmen?
Ziebolz:
Hier sind komplexe Zusammenhänge beschrieben: zum einen sind es ­inflammatorische/immunologische Gemeinsamkeiten zwischen beiden Erkrankungen inklusiver gemeinsamer Risiko­faktoren; anderseits können potenziell parodontalpathogene Bakterien wie Porphyromonas gingivales direkt am rheumatologischen Erkrankungsprozess beteiligt sein.

Welche klinische Konsequenz hat das für die zahnärztliche Parodontaltherapie und worauf sollte das ganze zahnärztliche Team achten, wenn es um die Instruktion dieser Patienten hinsichtlich Mundgesundheit und -hygiene geht? Können die bewährten Konzepte des häuslichen Biofilmmanagements überhaupt bei diesen Patienten angewandt werden?
Ziebolz:
Grundsätzlich kann auf bewährte Präventionskonzepte zurückgegriffen werden. Jedoch bedarf es einiger Adaptionen unter Berücksichtigung einer beeinträchtigten Mundhygienefähigkeit sowie dem häufigen Vorliegen von Mundtrockenheit mit entsprechend erhöhtem Karies- und Parodontitisrisiko. Aufgrund der immunologischen Dysbalance können ergänzend immunstabilisierende Maßnahmen hilfreich eingesetzt werden.

„… somit kann der Zahnarzt durch eine Parodontitistherapie den Blutdruck als auch die Durchblutung sowie das Aterioskleroserisiko positiv beeinflussen.“

Prof. Dr. Dirk Ziebolz ist Oberarzt an der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie an der Universitätsmedizin Leipzig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind interdisziplinäre Zahnerhaltung und Versorgungsforschung. Seit 2018 hält er eine außerplanmäßige Professur an der Universität Leipzig.

Tipp für die Praxis:
Patienten mit rheumatischen Erkrankungen benötigen ein individuelles, präventionsorientiertes Betreuungskonzept, wobei auch die begleitende Medikation berücksichtigt werden muss. Erfahren Sie mehr dazu in der Video­reihe: https://www.dental-online-college.com/videos/der-rheumapatient-in-der-zahnaerztlichen-praxis

Der Herzpatient in der zahnärztlichen Praxis

Herr Prof. Ziebolz, wenn wir über „den Herzpatienten“ sprechen, welche Arten von Erkrankungen sind damit gemeint und wie kann ich als Zahnarzt überhaupt erkennen, ob eine Herzerkrankung vorliegt?
Prof. Dr. Dirk Ziebolz:
Herzpatienten mit etablierten Erkrankungen des Herzens oder des Herzkrauslaufsystems, wie Herzinsuffizienz oder Ateriosklerose, lassen sich durch eine sorgfältige Anamnese identifizieren. Zudem sind Endokarditis-Risikopatienten als auch Patienten mit künstlichen Herzunterstützungssystemen und Herzschrittmacher zu berücksichtigen.

Gibt es zwischen den erwähnten Formen einer Herzerkrankung und oralen Erkrankungen, beispielsweise einer unbehandelten parodontalen Erkrankung, einen Zusammenhang und wenn ja, wie sieht dieser aus – und vor allem, wie kann ich diese Prozes als Zahnarzt stoppen beziehungsweise verhindern, dass er gar nicht erst entsteht?
Ziebolz:
Ein Zusammenhang zwischen Parodontitis und chronischen, inflammatorischen Herzerkrankungen ist sehr wahrscheinlich, wobei die Parodontitis als modulierender Risikofaktor gilt, neben einer erheblichen Anzahl anderer beeinflussender Faktoren. Somit kann der Zahnarzt durch eine Parodontitistherapie den Blutdruck als auch die Durchblutung/Vasodilatation sowie das Aterioskleroserisiko positiv beeinflussen.

Bezogen auf die Patientenhistorie: Lässt die Zahl der im Mund befindlichen Zähne eventuell schon Rückschlüsse auf die Mortalität bei einem an chronischer kardiovaskulärer Herzkreislauf-Erkrankung, wie Arteriosklerose, leidenden Patienten zu?
Ziebolz:
In der Tat zeigt sich, dass eine erhöhte Anzahl fehlender Zähne, als Prädiktor für erlebte Mundgesundheit, mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko kardiologischer Erkrankungen einhergeht. Ob und inwieweit es dann zu diesem Ereignis kommt, lässt sich alleine an der Anzahl der fehlenden Zähne nicht vorhersagen.

Was kann der Zahnarzt systemisch für diejenigen Patienten tun, die sich noch in einer frühen Phase der Herzerkrankung befinden, zum Beispiel mit hohem Blutdruck, Arteriosklerose oder Herzinsuffienz?
Ziebolz:
Wichtig wäre eine frühzeitige bedarfsgerechte parodontale Therapie einzuleiten und betroffene Patienten in ein konsequentes Präventionsprogramm zu integrieren.

Warum ist zahnärztliche Präventionstherapie gerade bei Patienten mit chronischen Herzerkrankungen so wichtig und welche Maßnahmen sind dazu angezeigt?
Ziebolz:
Aufgrund des potenziellen Einflusses der Mund- auf die Herzgesundheit – als auch des mit zunehmender Erkrankungsschwere einhergehendem veränderten zahnärztlichen Inanspruchnahmeverhaltens von Herzpatienten – sind Aufklärung und Sensibilisierung für ein adäquates persönliches Präventionsverhalten mit regelmäßiger professioneller Kontrolle und Unterstützung wichtig.

Tipp für die Praxis:
Eine stabile Mundgesundheitssituation kann sich positiv auf die Herzgesundheit von Patienten aus­wirken und sollte daher insbesondere durch intensive präventivzahnmedizinische Maßnahmen gefördert werden. Erfahren Sie mehr dazu in der Videoreihe: https://www.dental-online-college.com/videos/default-74172519e7

Diabetes und Mundgesundheit

Herr Dr. Schmalz: Worin liegt das Hauptproblem, wenn ein Diabetes und eine Parodontitiserkrankung bei einem Patienten zusammenkommen?
PD Dr. Gerhard Schmalz:
Das wesentliche Problem ist die bidirektionale Beziehung beider Erkrankungen zueinander: gemeinsames Auftreten, jeweils erhöhte Erkrankungsprogression und andererseits gemeinsamen Risikofaktoren wie Ernährung, Bewegung und Rauchen. Ein weiteres Problem liegt im erhöhten Risiko für das Auftreten von diabetischen Komorbiditäten, wie chronischen Nieren- und Herzerkrankungen.

Welche Rolle spielt das Verständnis über die Grundlagen einer Parodontitis, eines Diabetes Typ 2 und weiteren lebensstilassoziierten Faktoren als Ansatz für ein mögliches zahnmedizinische Praxiskonzept?
Schmalz:
Im Grunde muss man verstehen, dass es sich im Kern bei beiden Erkran­kungen um lebensstilassozierte, alters­bedingte, chronisch-inflammatorische ­Erkrankungen mit vergleichbarem Risiko­komplex handelt. Das bedeutet, dass ein präventionsorientiertes, zahnmedizinisches Betreuungskonzept auch unmittelbaren Einfluss auf den Diabetes Typ 2 ­haben wird.

Neben der Parodontitis – welche weiteren Auffälligkeiten sollte der Zahnarzt bei einem Diabetes-Patienten fokussieren und welche Konsequenzen hat das für die Betreuung von Diabetikern in der Zahnarztpraxis?
Schmalz:
In erster Linie ist hier die Mundtrockenheit mit erhöhtem Karies- und Parodontitisrisiko zu nennen. Daneben können betroffene Patienten häufig ausgeprägte gingivale Entzündungen und Auffälligkeiten der Mundschleimhaut aufweisen.

Wo liegt ein erhöhtes Komplikationsrisiko beim Diabetes mellitus Patienten vor?
Schmalz:
Bei einer ungünstigen Diabeteseinstellung (HbA1c >8,0%) kann in Abhängigkeit vom Bakteriämierisiko, unter ­Berücksichtigung von Mundgesundheitszustand und geplantem zahnärztlichen Eingriff, ein erhöhtes Infektionsrisiko vorliegen, was eine Antibiotikaprophylaxe erforderlich macht. Zudem kann eine potenzielle Hypoglykämie zu unmittelbaren systemischen Komplikationen führen.

Wie gelingt es, den Diabetes Patient „abzuholen“, um seine Compliance zu erhöhen?
Schmalz:
Dies ist insgesamt schwierig, weil die Patienten durch Ihre Grunderkrankung bereits sehr belastet sind. Wichtig ist es, auf den Patienten einzugehen, Verständnis für seine Situation und Belastung zu haben und individualisierte Interventionen zu erarbeiten. Insbesondere das Erarbeiten von kleinen Etappenzielen, gemeinsam mit den Patienten, erscheint sinnvoll.

„Wichtig ist es, auf den Patienten einzugehen, Verständnis für seine Situation und Belastung zu haben und individualisierte Interventionen zu erarbeiten.“

PD Dr. Gerhard Schmalz ist als Oberarzt für Oral Health Medicine für die Versorgung von Risikopatienten an der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie am Universitätsklinikum Leipzig tätig.

Tipp für die Praxis:
Diabetes und orale Erkrankungen haben einen gemeinsamen Risikokomplex und bedürfen daher einer umfassenden, patientenorientierten und interdisziplinären Betreuungsstrategie. Erfahren Sie mehr dazu in der Videoreihe: https://www.dental-online-college.com/videos/diabetes-und-mundgesundheit-implikationen-fuer-praxiskonzepte

Medikamente und Mundgesundheit – Konsequenzen für Therapie und Prävention

Herr Dr. Schmalz: Warum sollte der Zahnarzt die gesamte Patientenhistorie, also Vorerkrankungen und Erkrankungen plus den therapiebegleitenden Arzneimittelplan, kennen?
PD Dr. Gerhard Schmalz:
Sowohl Erkrankungen als auch die begleitende Medikamenteneinnahme können unmittelbar die Planung und Durchführung der zahnmedizinischen Behandlungen inklusive Komplikationsrisiko, sowie die orale Erkrankungsentstehung und –progression beeinflussen. Daher sind bei Medikamenten Indikation, Nebenwirkung als auch Wechselbeziehung zu berücksichtigen.

Warum sollte man bei Patienten alljährlich eine Anamneseaktualisierung durchführen und was sollte der Zahnarzt dabei unbedingt abfragen?
Schmalz:
Allgemeinerkrankungen beziehungsweise Erkrankungszustände und Medikation können sich ändern oder hinzukommen – somit ist eine rekurrierende Anamneseerhebung unerlässlich. Hierbei gilt je umfangreicher, desto sicherer ist der Informationsgewinn. Wichtig sind das genaue Präparat, Dosierung, Häufigkeit und Zeitpunkt der Einnahme und der Grund für die Medikamenteneinnahme. Idealerweise haben die Patienten eine Medikamentenliste vom Hausarzt.

Welche sind die gängigsten Medikamente beziehungsweise Medikamentengruppen, die der Zahnarzt kennen sollte, um die Wechselwirkungen auf die die zahnärztliche Behandlung sowie den Therapieverlauf einordnen und die Risiken steuern zu können?
Schmalz:
Die Gruppe der diversen Blutdruckmedikamente scheint von wesentlicher Bedeutung zu sein: a) Auftreten von Mundtrockenheit, insbesondere in Kombination und b) Auftreten von Gingivawucherung, insbesondere bei Nifedipin / Amlodipin. Daneben sind Blutverdünner und Bisphosphonate vornehmlich bei zahnärztlich-chirurgischen Maßnahmen zu berücksichtigen. Immunsuppressiva wie Methotrexat oder Prednisolon müssen ebenfalls bekannt sein, da diese das Immunsystem beeinflussen und dadurch zu infektiösen Komplikationen beitragen können.

Welche Risikofaktoren durch Medikation sollte der Zahnarzt kennen und welchen möglichen Einfluss haben diese Faktoren auf die zahnärztliche Behandlung und den Therapieverlauf?
Schmalz:
Im Wesentlichen sind es Nebenwirkungen wie das Auftreten medikamenteninduzierter Gingivawucherungen oder das Risiko von Kiefernekrosen, das erhöhte Auftreten von Mundtrockenheit sowie eine verstärkte Blutungsneigung sowie das Vorliegen einer möglichen medikamentenbedingten Immunsuppression; gegebenenfalls sind in diesem Kontext auch Arznei­- unverträglichkeiten zu nennen.

Welche zahnärztliche Therapie/Maßnahme erfordert die Zusammenarbeit mit dem Kollegen aus der Allgemeinmedizin?
Schmalz:
Sollten Unsicherheiten hinsichtlich Allgemeinerkrankungen und Medikation mit einem unmittelbaren Einfluss auf die Behandlung bestehen wie einem erhöhtem Komplikationsrisiko , wenn beispielsweise einer Antibiotikaprophylaxe benötigt wird, kann eine unmittelbare Zusammenarbeit mit dem Allgemeinmediziner vonnöten sein. Im Weiteren erscheint es sinnvoll, die Hausärzte/Internisten über den oralen Erkrankungszustand als auch die geplante Therapie zu informieren.

Tipp für die Praxis:
Medikamente sollten umfangreich erfasst und patientenindividuell berücksichtigt werden, wobei insbesondere auf Mundtrockenheit, Gingivawucherungen, Immunsuppression, Blutgerinnungshemmer und das Risiko für Kiefernekrosen geachtet werden muss. Erfahren Sie mehr dazu in der Videoreihe: https://www.dental-online-college.com/videos/medikamente-und-mundgesundheit-konsequenzen-fuer-therapie-und-praevention

Vielen Dank für Ihre Zeit und das interessante Gespräch, Herr Prof. Ziebolz und Herr Dr. Schmalz.

Die gesamte Videoreihe zu allen vier ­Patientengruppen finden Sie unter:
www.dental-online-college.com

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