Interview
Hochschule & Standpunkte
28.10.21
„So stark wie möglich – so lange wie nötig“
Die Wahl der richtigen Anästhesieform
PD Dr. mult. Peer Kämmerer
Nicht jede Anästhesieform ist für alle Indikationen geeignet. Für Behandler ist es daher nicht immer leicht, die richtige Wahl zu treffen. PD Dr. mult. Peer Kämmerer, stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Mainz, spricht über die Anwendungsbereiche der intraligamentären Anästhesie, das Patientenrechtegesetz und die Anforderungen an verschiedene Spritzensysteme.
Herr Dr. Kämmerer, ganz allgemein: Was ist bei der lokalen Schmerzausschaltung entscheidend?
Wir Zahnärzte müssen vor allem berücksichtigen, was für den Patienten wichtig ist. Viele Studien belegen, dass Patienten am meisten Wert auf eine ausreichende Wirkung legen und der Schmerz ausgeschaltet wird. Zudem achten viele auch darauf, dass das Taubheitsgefühl nach der Behandlung schnell nachlässt. Deshalb muss ganz individuell und vor allen Dingen gemeinsam mit dem Patienten entschieden werden, welche Anästhesieform die richtige ist.
Die Einbindung des Patienten – diesen Punkt greift das Patientenrechtegesetz von 2013 ebenfalls auf. Was müssen Behandler beachten?
Das Patientenrechtegesetz schreibt vor, über alle potenziellen Formen der Behandlung aufzuklären – das betrifft auch die Anästhesiemöglichkeiten. Der Wissensdrang ist hier größer, als viele vielleicht denken. Ich erlebe es im Berufsalltag oft, dass Patienten genau über das Anästhetikum und mögliche Komplikationen Bescheid wissen wollen. Hier ist der Zahnarzt gefordert. Inzwischen gibt es auch einige Rechtsurteile.
Tipp vom Experten
„Auf meinen Veranstaltungen ist auch immer wieder das Auftreten einer Bakteriämie Thema. Um diese zu vermeiden, hilft ein ganz simpler Tipp: Einfach nicht entlang des Zahnhalses, sondern durch die Papille in den Sulkus stechen, so gelangen weniger Bakterien in die Blutbahn.“
Welche sind das?
2004 kam es beispielsweise in Folge einer Leitungsanästhesie zu einer dauerhaften Schädigung des Nervus lingualis. Der Patient wurde im Voraus nicht über andere Möglichkeiten der Betäubung informiert, sodass seine Einwilligung als unwirksam erklärt wurde. Das Oberlandesgericht Koblenz entschied, dass der Zahnarzt 6000 Euro Schmerzensgeld an den Patienten zahlen musste [1]. Und auch 2016 entschied das Oberlandesgericht Hamm in einem ähnlichen Fall, dass ein Patient Schmerzensgeld in Höhe von 4000 Euro vom Zahnarzt erhalten sollte, nachdem die Zunge des Patienten infolge einer Leitungsanästhesie taub blieb [2]. Natürlich muss der Behandler nicht immer über alle Anästhesiefomen
aufklären, sondern nur über jene, die im vorliegenden Fall infrage kommen. Auch hier gilt wieder: Jede Situation muss individuell betrachtet werden.
Bei welchen Indikationen raten Sie Zahnärzten, die ILA einzusetzen, und bei welchen sollte eine andere Form der Anästhesie vorgezogen werden?
In meinen Augen ist die ILA eine hervorragende Anästhesieform für viele Indikationen. Deshalb benutze ich sie wann immer möglich. Gerade bei Eingriffen an Einzelzähnen, wie bei endodontischen Behandlungen, bei Zahnextraktionen oder bei der Füllungstherapie, bietet sich die ILA an. Sind hingegen tiefliegende Zähne, zum Beispiel Weisheitszähne, betroffen oder muss ein gesamter Quadrant betäubt werden, wie bei der Parodontitisbehandlung, kommt die ILA nicht infrage. Auch der Anteil von betroffenem Weichgewebe ist entscheidend: Je höher der Weichgewebsanteil, desto weniger lohnt sich der Einsatz der ILA. Grund dafür ist, dass bei der ILA nur der Zahn, die umgebende Gingiva aber nur sehr umschrieben betäubt wird. Bei der ILA ist allerdings der Injektionsschmerz geringer als beispielsweise bei der Leitungsanästhesie des Nervus alveolaris inferior, das kann gerade bei Kindern und Angstpatienten von Vorteil sein. Die dünneren, kürzeren Spritzennadeln wirken ebenfalls weniger erschreckend.
Gibt es noch weitere Vorteile gegenüber der Leitungs- oder Infiltrationsanästhesie?
Die Nadeln sind kürzer, das vermindert das Risiko eines Nadelbruchs und senkt so das Verletzungsrisiko. Ich laufe zudem nicht Gefahr, Nerven oder Blutgefäße zu schädigen. Während die Wirkung der ILA schon nach zwei bis drei Sekunden einsetzt, also quasi sofort, haben die Leitungs- und Infiltrationsanästhesie eine Latenzzeit von zehn beziehungsweise vier Minuten. Der größte Vorteil der ILA ist jedoch die selektive Schmerzausschaltung an einzelnen Zähnen. Der Patient hat so kein unangenehmes Taubheitsgefühl an der Lippe oder an anderen Stellen im Mund, die nicht behandelt werden.
Früher galt die ILA als Ausnahme, warum hatten beziehungsweise haben Zahnärzte Vorbehalte und wie können Sie diese zerstreuen?
Mittlerweile ist die ILA weitestgehend im Alltag von Zahnärzten angekommen. Hier gab es eine Trendwende: Immer öfter werde ich von Kollegen und angehenden Zahnärzten nach der ILA gefragt. Und auch Autoren von Studien und Fachmagazinen kommen zu dem Schluss, dass die ILA als primäre Methode der Anästhesie angewendet werden kann [3,4]. Sie ist mittlerweile auch Teil des Lehrplans an Universitäten. Das war tatsächlich nicht immer so und hier liegt wahrscheinlich auch das Problem. Wie jeder andere im Berufsalltag auch, entwickeln Zahnärzte eine gewisse Routine und nutzen bestimmte Anästhesieformen bevorzugt, weil sie diese aus dem Effeff beherrschen.
Apropos Studien: Ist die aktuelle Studienlage zur ILA ausreichend?
Meiner Meinung nach ist die ILA grundsätzlich gut erforscht. Eine Leitlinie existiert momentan leider nicht. Allerdings gibt es viele Metaanalysen und Studien zu diesem Thema. Hier müssen Zahnärzte jedoch genau hinsehen und darauf achten, dass Daten einer Kontrollgruppe aufgeführt sind und die Fallzahl hoch genug ist. Zusätzliche Forschung könnte es zu einzelnen Indikationsgebieten der ILA geben. Diese sollten dann beantworten, welche Anästhesieformen sich besonders für welche Indikation eignen. Und dann ist da natürlich noch die Frage nach dem geeignetsten Spritzensystem.
Wodurch zeichnet sich ein gutes System aus?
Die gängigsten Varianten sind Pistolen-, Dosierhebel- oder Dosierradspritzen. Ich nutze unter anderem die Sopira Citoject von Kulzer, eine Dosierhebelspritze, die sich durch ihr haptisches Feedback auszeichnet. Wie beim Betätigen eines Kugelschreibers kann ich am Finger spüren, welchen Druck ich ausübe. Das ermöglicht eine gute Kontrolle über die verabreichte Menge und gibt damit ein hohes Maß an Anwendungssicherheit. Denn bei der ILA müssen über etwa 20 Sekunden hinweg zirka 0,2 bis 0,3 ml des Anästhetikums pro Zahnwurzel langsam injiziert werden – da ist ein hochwertiges Spritzensystem sehr wichtig. Doch nur mit passenden Kanülen und Nadeln kann ich die ILA sicher durchführen. Im Sopira System von Kulzer sind alle Komponenten aufeinander abgestimmt.
Und zum Abschluss: Was ist Ihr persönlicher Leitgedanke, wenn es um die Auswahl der richtigen Anästhesieform geht?
Wie bereits gesagt, fällt die Entscheidung immer von Fall zu Fall – von Patient zu Patient. Grundsätzlich halte ich mich aber immer an das Motto: So stark wie möglich – so lange wie nötig. Mein Ziel ist es dabei, die Belastung für den Patienten gering zu halten.
Literaturverzeichnis unter www.teamwork-media.de/literatur
Vorträge 2018
PD Dr. mult. Peer Kämmerer hält auch 2018 Vorträge zur intraligamentären Anästhesie. Interessierte können sich online anmelden unter:
www.kulzer.de/zahnarztfortbildungen
08.06.2018 in Göhren-Lebbin
29.06.2018 in Bonn
ILA-Live-Demonstration im Rahmen der Kulzer Symposien „Symposien mit Flair“:
23.06.2018 in München
29.09.2018 in Böblingen
13.10.2018 in Frankfurt am Main
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