{"id":1359,"date":"2021-10-25T15:52:54","date_gmt":"2021-10-25T13:52:54","guid":{"rendered":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/?p=1359"},"modified":"2022-05-31T16:56:20","modified_gmt":"2022-05-31T14:56:20","slug":"bedarfsgerecht-behandeln","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/bedarfsgerecht-behandeln\/","title":{"rendered":"Bedarfsgerecht \u00adbehandeln"},"content":{"rendered":"\n

Es gibt viele Menschen, die heute trotz teilweise ernsthafter (in der Regel chronischer) Erkrankungen nicht nur ein h\u00f6heres Lebensalter erreichen als fr\u00fcher, sondern diese zus\u00e4tzliche Zeit an Lebensjahren auch mit einer h\u00f6heren Lebensqualit\u00e4t in Selbstst\u00e4ndigkeit verbringen k\u00f6nnen. Was die Mundgesundheit angeht, so stehen derzeit vor allem Pflegebed\u00fcrftige und Senioren in Pflegeheimen im Fokus der Diskussion. Obwohl diese Thematik von hoher Relevanz ist, scheint es gleichzeitig auch angemessen, pr\u00e4ventive und restaurative Strategien f\u00fcr \u00e4ltere und hoch\u00adbetagte Menschen, die (noch) nicht oder nur in geringem Ma\u00df auf Betreuung und Pflege angewiesen sind, zu beleuchten. Folgende\u00ad Fragen sind dabei unter anderem von Interesse: Welchen Einfluss hat das Erreichen eines hohen Alters auf orale Strukturen und biologische Prozesse der Mundh\u00f6hle? Welche zahn\u00e4rztlichen Interventionen sind im Alltag eines \u00e4lteren Patienten empfehlenswert und gleichzeitig umsetzbar? Diesen Fragen widmet sich der vorliegende\u00ad Beitrag mit speziellem Augenmerk auf bedarfsgerechte\u00ad pr\u00e4ventive und restaura\u00adtive Aspekte.<\/p>\n\n\n\n

Frage zum Behandlungskonzept
Welche Faktoren stehen bei der pr\u00e4ventiven und restaurativen Betreuung \u00e4lterer und hochbetagter Patienten im Vordergrund?<\/strong>
Prof. (apl.) Dr. Cornelia Frese: Bei der Diagnostik und Behandlungsplanung sollten biologische Parameter wie beispielsweise Speichelquantit\u00e4t und -qualit\u00e4t sowie allgemeinmedizinische Faktoren, zum Beispiel Polypharmazie, miteinbezogen werden. Im Hinblick auf die Pr\u00e4vention sollten die M\u00f6glichkeiten der altersgerechten Ern\u00e4hrungslenkung, der mechanischen Plaquekontrolle und der pharmakologisch-chemischen Interventionen \u2013 einschlie\u00dflich der ad\u00e4quaten Fluoridierung \u2013 umf\u00e4nglich ausgesch\u00f6pft werden. In der restaurativen Versorgung spielen zunehmend bedarfsgerechte direkte Interventionen eine Rolle.<\/p>\n\n\n\n

Bereits heute liegt zwischen den so\u00adgenannten j\u00fcngeren Senioren und den Hochbetagten eine bemerkenswerte Zeitspanne von\u00a035 Jahren\u00a0[1]. Hinzu kommt, dass mindestens die H\u00e4lfte der j\u00fcngeren Bev\u00f6lkerung, die nach dem Jahr\u00a02000 geboren wurde, statistischen Hochrechnungen zufolge das hohe Alter von\u00a0100 Jahren erreichen wird\u00a0[2,\u2009\u20093]. F\u00fcr Europa zeigen aktuelle Erhebungen eine durchschnittliche Zahl von 17,3 Hundertj\u00e4hrigen pro\u00a0100\u00a0000 Einwohner, mit der h\u00f6chsten Pr\u00e4valenz von Hundertj\u00e4hrigen in Frankreich (28,2), Italien (25,4) und Griechenland (23,0). Deutschland liegt mit\u00a016,8 Hundertj\u00e4hrigen pro\u00a0100\u2009000 Einwohner knapp unter dem Durchschnittswert der EU.
Die \u00fcberwiegende Mehrheit der Hundertj\u00e4hrigen und Hochbetagten lebt bis weit \u00fcber\u00a090 Jahre \u201efunktionell\u201c unabh\u00e4ngig und weitgehend selbstst\u00e4ndig in privaten Haushalten\u00a0[4]. Auch nationale epidemiologische Querschnittsunter\u00adsuchungen der Bev\u00f6lkerung, wie die Deutschen Mundgesundheitsstudien, k\u00f6nnen einen Anstieg an relevanten Daten in den h\u00f6heren Alterskohorten verzeichnen. Im Jahr\u00a02015 wurde im Rahmen der F\u00fcnften Deutschen Mundgesundheitsstudie erstmals zwischen jungen Senioren von\u00a065 bis\u00a074 Jahren und \u00e4lteren Senioren von\u00a075 bis\u00a0100 Jahren unterschieden\u00a0[5].
Insbesondere im Bereich der Mund\u00adgesundheit ist festzustellen, dass \u00e4ltere Menschen eine steigende Zahl eigener nat\u00fcrlicher Z\u00e4hne \u2013 teils verbunden mit speziellen oralen Erkrankungen \u2013 aufweisen, die eine Herausforderung f\u00fcr die pr\u00e4ventive und restaurative Zahnheilkunde darstellen\u00a0[6]. Mehr oder weniger manifeste Mundhygienem\u00e4ngel, gefolgt von oralen Erkrankungen wie Gingivitis, Parodontitis und speziellen Formen von Zahnhartsubstanzdefekten, wie zum Beispiel Wurzelkaries, treten auf.<\/p>\n\n\n\n

Altersspezifische Aspekte<\/strong>
Speichel
Einen bedeutenden Einfluss auf die Mundgesundheit \u00fcbt die altersbedingte Abnahme des Speichelflusses aus. Dabei sind unstimulierte und stimulierte Flie\u00dfraten sowie antimikrobielle Proteine\u00ad (Histatine und Muzine) und zahlreiche Elektrolyte (Na, K, Cl, Ca) reduziert [7]. Die altersbedingte Abnahme der Speichelflie\u00dfraten erscheint bei Frauen deutlicher ausgepr\u00e4gt als bei M\u00e4nnern [7,\u2009\u20098].<\/p>\n\n\n\n

Multimedikation
Mit steigendem Alter treten vermehrt chronische Erkrankungen auf, und die Zahl der t\u00e4glich eingenommenen Medikamente steigt an. In Deutschland kommt es bereits bei circa 42 Prozent der j\u00fcngeren Senioren ab 65 Jahren zu Polypharmazie, wozu auch frei verk\u00e4ufliche \u201eOver-The-Counter\u201c (OTC)-Pr\u00e4parate gez\u00e4hlt werden [9]. Aus medizinischer Sicht stehen unter anderem unkalkulierbare Wechsel- und Nebenwirkungen sowie eine unzureichende Ber\u00fccksichtigung der Pharmakokinetik bei \u00e4lteren und hoch\u00adbetagten Menschen im Vordergrund [9]. Aus Sicht der pr\u00e4ventiven Zahnheilkunde zeigen Studien, dass bei der Einnahme von vier oder mehr verschiedenen Wirkstoffklassen mit h\u00f6herer Wahrscheinlichkeit Hyposaliva\u00adtion, Xerostomie und\/oder eine Reduktion qualitativer und quantitativer Speichelparameter auftreten k\u00f6nnen [7,\u2009\u20098,\u2009\u200910,\u2009\u200911]. Im Vergleich dazu weisen \u00e4ltere Menschen, die keinerlei Medikamente einnehmen, Speichelflie\u00dfraten im Normbereich auf [1].<\/p>\n\n\n\n

Welchen pr\u00e4ventiven Bedarf haben wir in der Zukunft zu erwarten?<\/strong>
Bei der pr\u00e4ventiven Betreuung \u00e4lterer Patienten gilt es orale Erkrankungen wie Gingivitis, Parodontitis, karies- und nicht kariesbedingte Zahnhartsubstanzdefekte, endodontische Erkrankungen und Zahnverluste mit L\u00fcckenbildungen zu vermeiden oder zumindest in ihrem Ausma\u00df zu begrenzen [12]. Oftmals stellt der Zahnarzt bei \u00e4lteren Patienten durch oben genannte altersspezifische Besonderheiten stetig zunehmende M\u00e4ngel im Bereich der Mundhygiene und einen Anstieg kari\u00f6ser L\u00e4sionen zum Beispiel im Bereich der freiliegenden Wurzeloberfl\u00e4chen fest. Im Rahmen des Gesamt\u00admanagements m\u00fcssen sowohl bedarfsgerechte pr\u00e4ventive als auch res\u00adtaurative Ma\u00dfnahmen ergriffen werden, um pathologische Einflussfaktoren zu reduzieren und protektive Einflussfaktoren zu erh\u00f6hen [13]. Zus\u00e4tzlich zu einer engmaschigen pr\u00e4ventiven Betreuung unter Ber\u00fccksichtigung von Ern\u00e4hrungsberatung und Plaquekontrolle (einschlie\u00dflich Professioneller Zahnreinigungen und Mundhygieneinstruktionen) haben sich die gegenw\u00e4rtigen Strategien zur Kariespr\u00e4vention gem\u00e4\u00df der aktuellen S2k-Leitlinie zur Kariesprophylaxe bei bleibenden Z\u00e4hnen bew\u00e4hrt [14].
Etablierten und evidenzbasierten Fluoridierungsma\u00dfnahmen bei hohem Kariesrisiko wie beispielsweise der Anwendung spezieller hochkonzentrierter Zahnpasta mit 5\u2009000 ppm Fluorid sowie einer regelm\u00e4\u00dfigen Applikation von hochkonzentrierten Fluorid- (22\u2009500 ppm) und Chlorhexidinlacken (1\u2009%) sollte der Vorzug gegen\u00fcber momentan stark beworbenen, jedoch mit noch vergleichsweise limitierter Evidenz ausgestatteten neuen Wirkstoffen, zum Beispiel Hy\u00addroxylapatit, gegeben werden [14\u201316]. Dazu konnten Ekstrand et al. in einer Studie mit \u00e4lteren Probanden mit einem mittleren Alter von 73 Jahren (65 bis 89 Jahre) zeigen, dass die Verwendung einer speziellen hochkonzentrierten Fluoridzahnpasta mit 5000 ppm Fluorid zu h\u00f6heren Fluo\u00adridkonzentrationen im Speichel f\u00fchrte. Die Autoren schlussfolgerten, dass diese Fluoridlevel im Speichel hoch genug sein k\u00f6nnten, um bei \u00e4lteren Menschen das Fortschreiten von Wurzelkaries einzud\u00e4mmen [17].<\/p>\n\n\n\n

Frugale Interventionen<\/strong>
Um den oralen Erkrankungen \u00e4lterer und hochbetagter Patienten unter rea\u00adlistischen Bedingungen Rechnung zu tragen, k\u00f6nnen auch sogenannte fru\u00adgale Interventionen von Bedeutung sein [18]. Darunter versteht man in der Medizin und Zahnmedizin Ma\u00dfnahmen, die \u201enachhaltig\u201c (sustainable), \u201ebezahlbar\u201c (affordable) und \u201ead\u00e4quat\u201c beziehungsweise \u201egut genug\u201c (good enough) sind. Dabei m\u00fcssen nicht alle derzeit angepriesenen \u201eHightech-Optionen\u201c zum Einsatz kommen. Zuweilen sind sogar \u201eLowtech-Interventionen\u201c vorzuziehen (siehe Patientenbeispiel). Es geht dabei nicht darum, auf \u201eminderwertige\u201c oder \u201ebillige\u201c Produkte und\/oder Dienstleistungen zur\u00fcckzugreifen, allerdings stehen auch keine \u201ePremium-Leistungen\u201c im Vordergrund. Bei frugalen Interven\u00adtionen handelt es sich vielmehr um qualit\u00e4tsorientierte pr\u00e4ventive und restaurative Konzepte, die bedarfsgerecht an die Voraussetzungen und Erwartungen von Patienten angepasst sind.
F\u00fcr den Bereich der pr\u00e4ventiven Zahnheilkunde bedeutet dies, dass die M\u00f6glichkeiten der mechanischen und chemischen Plaquekontrolle unter Ber\u00fccksichtigung altersentsprechender Faktoren ausgesch\u00f6pft werden. F\u00fcr den Bereich der restaurativen Zahnheilkunde ist absehbar, dass substanzschonende Interventionen, meist mit direkt vorgenommenen Techniken, bei Senioren mehr Anwendung finden werden als fr\u00fcher.
Ein praktisches Beispiel f\u00fcr eine frugale Intervention bei einer 92-j\u00e4hrigen, weitgehend gesunden Patientin mit pr\u00e4ventivem und restaurativem Behandlungsbedarf zeigen die Abbildungen 1a bis t. Die Patientin gab an, kaufunktionell wegen insuffizienter Versorgung der Z\u00e4hne 45 und 46 sowie \u00e4sthetisch wegen eines deutlichen \u201eschwarzen Dreiecks\u201c zwischen den Z\u00e4hnen 41 und 43 (Zahn 42 fehlt) eingeschr\u00e4nkt zu sein (a bis e). Es wurde auf aufwendige prothetische und chirurgische Eingriffe verzichtet. An den Z\u00e4hnen 41, 43, 45 und 46 wurden Restaurationen aus direkt eingebrachtem Komposit hergestellt. Voraussetzungen f\u00fcr eine erfolgreiche Versorgung waren dabei unter anderem die absolute Trockenlegung (f), die Verwendung von anatomisch geformten Teilmatrizen und Separationsringen (g und h), der Einsatz von Approximalkontaktformern (i und j), die Anwendung von speziellen oszillierenden Dia\u00admantfeilen (Sonic-Shape, Komet) zur Ausarbeitung (k und l) sowie die Nutzung geeigneter Modellierinstrumente (\u00adOptraSculpt, Ivoclar Vivadent) (m). An pr\u00e4ventiven Ma\u00dfnahmen bestand bez\u00fcglich Ern\u00e4hrung und Fluoridierung kein Verbesserungsbedarf. Neben einer Professionellen Zahnreinigung wurde ein Mund\u00adhy\u00adgienetraining mit Auswahl passgenauer Interdentalraumb\u00fcrsten und eingehender Demonstration zur Verbesserung der Interdentalraumhygiene vorgenommen (n und o). Die Seniorin ist mit dem Behandlungsergebnis sehr zufrieden (p bis t).<\/p>\n\n\n\n

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