{"id":1407,"date":"2021-10-25T16:40:06","date_gmt":"2021-10-25T14:40:06","guid":{"rendered":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/?p=1407"},"modified":"2022-05-31T16:56:19","modified_gmt":"2022-05-31T14:56:19","slug":"alles-im-griff","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/alles-im-griff\/","title":{"rendered":"Alles im Griff?"},"content":{"rendered":"\n

Die Zielsetzung dieses Beitrags besteht nicht in einer detaillierten Beschreibung der einzelnen Diagnostikverfahren. Vielmehr soll eine \u00dcbersicht \u00fcber die wesentlichen in der CMD-Befundung zur Verf\u00fcgung stehenden klinischen und instrumentellen Verfahren gegeben werden. Diese zum Teil zeit- und finanziell aufwendigen Analysetechniken k\u00f6nnen und werden allerdings nicht routinem\u00e4\u00dfig und stereotyp bei jedem CMD-Patienten angewandt. Vielmehr zeichnet sich der erfahrene Diagnostiker dadurch aus, dass er zwar mit der Palette der Diagnoseverfahren vertraut ist und deren diagnostische Aussagekraft kennt, diese diagnostischen Mittel aber gezielt und dosiert einsetzt. Dazu muss er im individuellen Patientenfall abw\u00e4gen, ob und welche Analyseverfahren \u00fcber die Anamnese und die klinische Diagnostik hinaus relevante Erkenntnisse f\u00fcr die Diagnosestellung und Therapieplanung erwarten lassen. Unkenntnis, Unerfahrenheit beziehungsweise eine \u00fcbertriebene wirtschaftliche Motivation k\u00f6nnen zu einer teilweise absurden \u00dcberdiagnostik ohne therapeutischen Vorteil f\u00fcr den Patienten f\u00fchren.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Fragen an den Autor
Ist ein Knacken des Kiefergelenks \u00adtherapiebed\u00fcrftig?<\/strong>
Prof. Dr. Ulrich Lotzmann: Nein, nicht grunds\u00e4tzlich. Ein Therapiebedarf h\u00e4ngt von der Ursache des Knackens ab. Zudem ist bedeutsam, seit wann das Knacken besteht, wie ausgepr\u00e4gt das Ger\u00e4usch ist und ob es zeitweise mit Gelenkschmerzen und Bewegungseinschr\u00e4nkungen des Unterkiefers einhergeht.<\/p>\n\n\n\n

Kann jedem CMD-Patienten mit einer okklusalen Therapie geholfen werden?<\/strong>
Okklusale Korrekturen sind bei CMD-Patienten nur dann therapeutisch effektiv, wenn Okklusion und Kieferrelation des Patienten eine wesentliche Rolle in der Krankheitsentstehung spielen. Dies ist nicht zwangsl\u00e4ufig der Fall.<\/p>\n\n\n\n

\u00c4tiopathogenese dysfunktionsbedingter Erkrankungen des Kauorgans<\/strong>
Als charakteristische Anzeichen einer dysfunktionellen Erkrankung des cranio\u00admandibul\u00e4ren Systems (CMD) gelten:
Limitation und Inkoordination der Unterkieferbewegungen,
Erm\u00fcdung, Steifheit, Druckempfindlichkeit sowie Ruhe- oder Bewegungsschmerz der Kau- und Nackenmuskulatur,
Reiben und Knacken, Palpationsempfindlichkeit sowie Ruhe- oder Bewegungsschmerz der Kiefergelenke.
Zudem k\u00f6nnen als Begleitsymptome Spannungskopfschmerz, Nacken- und R\u00fcckenschmerzen, neuralgiforme Attacken im Gesichtsbereich, Geschmacks\u00adirritationen, Vertigo, Tinnitus, Hyper-\/Hypoakusis, verminderte Visusleistung, gest\u00f6rte Speichelsekretion, Schluckbeschwerden, Brennen der Mundschleimhaut und Par\u00e4sthesien wie Kribbeln und Taubsein beobachtet werden.
Im Mittelpunkt der komplexen, multifaktoriellen \u00c4tiopathogenese dysfunktionsbedingter Erkrankungen des Kauorgans (Syn.: Myoarthropathie) steht zumeist die muskul\u00e4re Hyperfunktion (Hyperaktivit\u00e4t, Hypertonizit\u00e4t), die in Abh\u00e4ngigkeit von Dauer und St\u00e4rke zu strukturellen Ver\u00e4nderungen der belasteten Gewebe f\u00fchrt. Funktionseinschr\u00e4nkungen und Schmerz k\u00f6nnen die Folge sein. Der Ort der Schmerz\u00adentstehung (L\u00e4sion) muss jedoch nicht zwangsl\u00e4ufig mit dem Ort der Schmerzempfindung (referred pain) identisch sein.
Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die eine Hyperfunktion der Kopf- und Nacken\u00admuskulatur ausl\u00f6sen, unterhalten oder verst\u00e4rken k\u00f6nnen: Einwirkungen von Stressfaktoren (K\u00e4lte, Feuchtigkeit, W\u00e4rme, Durst, Hunger, Tod eines Fami\u00adlienangeh\u00f6rigen, Arbeitslosigkeit, \u00dcberforderung im Beruf, Einsamkeit), psychische Erkrankungen (Depression), Fehlhaltung und Sch\u00e4den in der Wirbels\u00e4ule, hormonale Faktoren (Schilddr\u00fcsendysfunktion), Krankheit, Trauma, propriozeptive Reflexe aus prim\u00e4r erkrankten, \u00fcber- oder fehlbelastete Kiefergelenken und okklusale St\u00f6rungen (Graber). Alle f\u00fcr die Entwicklung einer CMD relevanten Faktoren k\u00f6nnen als B\u00fcndel in beliebiger Kombination auftreten, ein Umstand, der die Diagnostik erschweren und eine kausale Therapie im Einzelfall sogar unm\u00f6glich machen kann.
Ob im individuellen Patientenfall eine funktionelle Vorbehandlung erforderlich ist oder welcher gegebenenfalls interdisziplin\u00e4re Therapieansatz gew\u00e4hlt werden sollte, kann nur mithilfe der zahn\u00e4rztlichen Funktionsdiagnostik gekl\u00e4rt werden.<\/p>\n\n\n\n

Die zahn\u00e4rztliche Funktionsdiagnostik strebt dabei nach Beantwortung folgender Fragen:
\u2022 Gibt es Hinweise auf eine objektivierbare, die weitere zahn\u00e4rztliche Planung und Therapie beeinflussende Funktionsst\u00f6rung?
\u2022 In welchen Gewebestrukturen ist das Bewegungshindernis oder\/und die schmerzausl\u00f6sende L\u00e4sion lokalisiert?
\u2022 Welche Kausalfaktoren sind f\u00fcr die Funktionseinschr\u00e4nkung und\/oder den Schmerz wahrscheinlich?
\u2022 Ist eine zahn\u00e4rztliche, gegebenenfalls interdisziplin\u00e4re Therapie erfolgversprechend und sinnvoll?<\/p>\n\n\n\n

Insbesondere die Ursachenfahndung geh\u00f6rt zu den zentralen Aufgaben der Diagnostik und ist f\u00fcr die Therapiewahl und die prognostische Einsch\u00e4tzung des Therapieverlaufs bedeutsam. Nur in jenen F\u00e4llen, in denen die Okklusion f\u00fcr die Pathogenese der dysfunktionsbedingten Erkrankung bedeutsam ist, kann eine kausale zahn\u00e4rztliche Therapie \u2013 mit Ver\u00e4nderung der Okklusion und Ver\u00e4nderung der mandibulo-maxill\u00e4ren Relation \u2013 sinnvoll eingesetzt werden. Anderenfalls haben okklusale Ma\u00dfnahmen bestenfalls palliativen Charakter. Die in der Literatur beschriebenen und in der zahn\u00e4rztlichen Fortbildung propagierten Verfahren der Funktionsdiagnostik sind vielf\u00e4ltig.<\/p>\n\n\n\n

Grunds\u00e4tzlich k\u00f6nnen folgende Diagnostikverfahren unterschieden werden:
\u2022 Funktioneller Kurzcheck (Schnellscreening)
\u2022 Anamnese mit klinischer\/manueller Funktionsdiagnostik
\u2022 Bildgebende Diagnostik
\u2022 Instrumentelle Okklusionsanalyse
\u2022 Instrumentelle Funktionsanalyse
\u2022 Orthop\u00e4dische Beurteilung
\u2022 andere (zum Beispiel neurologische, internistische, HNO-\u00e4rztliche, psychosomatische, schmerztherapeutische Beurteilung)<\/p>\n\n\n\n

Bevor der funktionelle Kurzcheck und die klinische Funktionsdiagnostik als das zentrale Element der CMD-Diagnostik n\u00e4her erl\u00e4utert werden, sollen zun\u00e4chst die erg\u00e4nzenden Analyse-Verfahren kurz skizziert werden.<\/p>\n\n\n\n

Bildgebende Diagnostik<\/strong>
Zur Ursachenfahndung bei Schmerzen und anderen Beschwerden wie Gelenkger\u00e4uschen und einer eingeschr\u00e4nkten Unterkieferbeweglichkeit kann nach klinischer Bewertung der gezielte Einsatz bildgebender Verfahren erforderlich sein. Diese Verfahren k\u00f6nnen vom Zahnfilm, der Orthopantomografie (OPG) \u00fcber die Dentale Volumentomografie (DVT), Kernspintomografie (MRT), Nasennebenh\u00f6hlen-Sonografie bis zur Kiefergelenk-Arthroskopie reichen. Im Rahmen der Eingangsdiagnostik wird man sich allerdings in der Regel zum Ausschluss einer dentalen\/parodontalen Genese der Beschwerden auf die Beurteilung von OPG und\/oder Zahnfilm-aufnahmen beschr\u00e4nken \u2013 und auch dies nur bei Bedarf. Der Einsatz bildgebender Diagnostik ist kein Automatismus und setzt immer eine profunde Anamnese und klinische Untersuchung voraus. Sind bildgebende Verfahren indiziert, ist jene Technik einzusetzen, die bei geringster Invasivit\u00e4t den f\u00fcr den Pa\u00adtienten optimalen diagnostischen Nutzen erwarten l\u00e4sst.<\/p>\n\n\n\n

Instrumentelle Okklusionsanalyse<\/strong>
Die Bewertung der okklusalen Verh\u00e4ltnisse in Statik und Dynamik anhand montierter Modelle oder mithilfe computergest\u00fctzter Registriermittel (zum Beispiel T-Scan Occlusion Analysis-System, Tekscan) wird als instrumentelle Okklusionsanalyse bezeichnet.
Der Vorteil der Okklusionsanalyse anhand montierter Modelle besteht darin, dass man losgel\u00f6st vom Patienten dessen Okklusionsverh\u00e4ltnisse in Statik und Dynamik dokumentieren und beurteilen kann (Abb. 1). Dies umfasst die Lage der Okklusionskontakte, die sagittale, transversale und horizontale Ausformung der Zahnb\u00f6gen sowie die Lage und das Ausma\u00df von Schlifffacetten. Mithilfe der Splitcast-Technik oder pr\u00e4ziser durch Anwendung zus\u00e4tzlicher Artikulator-Hilfsger\u00e4te \u2013 wie beim SAM-Artikulator der Mandibular-Positions-Indikator \u2013 k\u00f6nnen die Verlagerungsrichtung und das Verlagerungsausma\u00df der Kondylen aus der registrierten (zentrischen) und montierten Unterkieferposition in die maximale Okklusion dreidimensional dokumentiert und daraus Schl\u00fcsse f\u00fcr den Therapieweg gezogen werden.
Ein weiterer Vorteil montierter Modelle besteht in der M\u00f6glichkeit, die nach erfolgreichem Abschluss der Vorbehandlung erforderlichen okklusalen Korrekturen durch ein selektives Probe-einschleifen oder\/und durch ein Set- oder Wax-up \u201edurchzuspielen\u201c und so die definitive Therapie verl\u00e4sslicher zu planen (Abb. 2). Die Okklusionsanalyse anhand montierter Modelle setzt aber als conditio sine qua non voraus, dass
a) formgetreue Modelle mit exakter Wiedergabe der okklusionsrelevanten Zahnareale vorliegen,
b) diese Modelle in ihrer physiologischen (zentrischen) Kieferrelation montiert sind,
c) die Montageachse zumindest ann\u00e4hrend der Lage der transversalen Scharnierachse beim Anheben des Unterkiefers aus der Ruhelage in die physiologische Position entspricht sowie
d) die Artikulatorgelenke zumindest mit einem Protrusionscheckbiss individua\u00adlisiert sind (siehe auch Beitrag Heimann & Jahn, ab Seite 52).<\/p>\n\n\n