{"id":7098,"date":"2022-08-03T08:11:06","date_gmt":"2022-08-03T06:11:06","guid":{"rendered":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/?p=7098"},"modified":"2022-08-03T13:59:11","modified_gmt":"2022-08-03T11:59:11","slug":"personalisierter-behandeln","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/personalisierter-behandeln\/","title":{"rendered":"Personalisierter behandeln"},"content":{"rendered":"\n

Parodontitis ist eine der h\u00e4ufigsten chronischen Erkrankungen weltweit und somit geh\u00f6ren Diagnostik und Therapie parodontaler Erkrankungen in der Regel in jeder Mehrbehandler-Praxis zum Behandlungsspektrum. Im Gespr\u00e4ch mit teamwork erl\u00e4utert Prof. Dr. Falk Schwendicke, Zahnmediziner und Experte f\u00fcr Deep Learning in der Zahnmedizin, wo KI k\u00fcnftig den Zahnarzt in parodontologischen Fragestellungen unterst\u00fctzen kann. Die \u00c4ngste mancher Kollegen, die mit KI eine \u201eKochbuchzahnmedizin\u201c bef\u00fcrchten, teilt er nicht, sondern prognostiziert positive Effekte dank pr\u00e4ziser Diagnostik und evidenzbasierter Handlungskorridore in der Therapie.<\/p>\n\n\n\n

Herr Prof. Schwendicke, inwiefern kann die KI in der Parodontologie, insbesondere in der Diagnostik, hilfreich sein?<\/strong>
Ein relevanter Faktor bei der Therapiewahl und -gestaltung ist der Knochenabbau. Wollte der Zahnarzt diesen aber zum Beispiel auf einer Panoramaschichtaufnahme mit 25 Z\u00e4hnen vollst\u00e4ndig vermessen, h\u00e4tte er gut zu tun: Die Messungen m\u00fcssten an 50 Fl\u00e4chen erfolgen, wobei jeweils der Knochenabbau und die Wurzell\u00e4nge beziffert werden m\u00fcssen, um anschlie\u00dfend den Knochenabbau in Prozent zur Wurzell\u00e4nge angeben zu k\u00f6nnen.
KI-Software kann bereits heute den Knochenabbau automatisiert aus dem R\u00f6ntgenbild erfassen und vermessen \u2013 und das in gerade mal f\u00fcnf Sekunden! Mittelfristig wird auch der Abbautyp \u2013 vertikal, horizontal oder mit Furkationsbeteiligung \u2013 bestimmt werden k\u00f6nnen. Au\u00dferdem wird die Zahl der fehlenden Z\u00e4hne erfasst. Damit kann entsprechend der neuen Paro-Klassifikation der individuelle Komplexit\u00e4tsgrad des Patienten in Staging und Grading schnell und pr\u00e4zise abgebildet werden.
Maschinen und KI werden immer wichtiger, um aus komplexen diagnostischen Daten, dazu z\u00e4hle ich in der Parodontologie zum Beispiel mikrobiomische Speicheranalysedaten, also aus der Tasche entnommenen Bakteriendaten, Sinnzusammenh\u00e4nge abzuleiten. Die Datenmenge ist sehr gro\u00df und eignet sich gut f\u00fcr komplexe KI-Analytik \u2013 klassische Statistik reicht daf\u00fcr nicht mehr aus. Das konsequente Sammeln und Zusammenf\u00fchren medizinischer und mikrobiomischer Daten sowie aller Bild- und Medikationsdaten erm\u00f6glicht es uns am Ende, auch longitudinale Vorhersagen machen zu k\u00f6nnen. Dies wiederum w\u00fcrde ein gezieltes Vorgehen in Therapieplanung und -durchf\u00fchrung erm\u00f6glichen.<\/p>\n\n\n\n

Worin liegen die Vorteile f\u00fcr den Zahnarzt?<\/strong>
Der Zahnarzt wird mit KI-Unterst\u00fctzung sehr viel schneller, wenn er nicht, wie am Beispiel eingangs erw\u00e4hnt, 50 Fl\u00e4chen vermessen muss. Das schafft mehr Effizienz im Praxisalltag und setzt Ressourcen frei. Zudem erm\u00f6glicht KI uns Zahn\u00e4rzten, systematischer, umf\u00e4nglicher und vermutlich auch genauer diagnostizieren zu k\u00f6nnen, denn im Praxisalltag schaut sich kaum ein Kollege die Bilder so umf\u00e4nglich an, wie dies KI-basiert geschieht \u2013 und damit \u00fcbersehen wir Zahn\u00e4rzte eben manchmal etwas. Die Maschinen werden irgendwann an den Punkt kommen, an dem sie nahezu nichts mehr \u00fcbersehen \u2013 da sind wir heute noch nicht, aber ich bin mir sicher, der Tag wird kommen. Zudem wird der Zahnarzt dank der KI-basierten \u201eZweitmeinung\u201c und einem farblich markierten, leicht verst\u00e4ndlichen R\u00f6ntgenbild, den Patienten sehr viel einfacher und anschaulicher informieren und beraten k\u00f6nnen. Auch davon werden Zahn\u00e4rzte in Zukunft profitieren.<\/p>\n\n\n\n

Wie profitiert der Patient?<\/strong>
Der Patient erh\u00e4lt in k\u00fcrzester Zeit eine sehr umfangreiche und pr\u00e4zise Diagnostik und versteht die Zusammenh\u00e4nge besser. Wir haben dazu gerade eine Studie ver\u00f6ffentlicht, die zeigt, dass Patienten besser verstehen, wo das Problem sitzt, wenn sie die Situation auf einen farblichen KI-R\u00f6ntgenbild veranschaulicht bekommen. Zudem st\u00e4rkt es auch das Vertrauen in den Zahnarzt und die Therapiewahl. Der Patient kann dank der individuellen Planung eine bessere und effektivere Therapie bekommen, das k\u00f6nnte bedeuten: bester Therapieoutcome bei geringsten Nebenwirkungen und optimalen Kostenverh\u00e4ltnissen. Das ist zwar noch Zukunftsmusik \u2013 aber dahin wollen wir kommen; wir wollen mit KI individualisierter und personalisierter behandeln.<\/p>\n\n\n\n

Was bringt es dem Gesundheitssystem?
<\/strong>Individualisierte und personalisierte Behandlung ist nat\u00fcrlich auch f\u00fcr die Versicherer und das Gesundheitswesen interessant. Es geht darum, die knappe \u201eRessource Arzt\u201c zu entlasten, gerade im l\u00e4ndlichen Raum. Zudem ist der Patient heute \u00fcber unterschiedliche Kan\u00e4le bereits vorinformiert, sodass wir zu einem mehr partnerschaftlich ausgerichteten Miteinander zwischen (Zahn-)Arzt und Patient kommen k\u00f6nnen. Auch k\u00f6nnte eine zielgerichtete Behandlung mit Zugriff auf alle verf\u00fcgbaren Daten dazu beitragen, Kosten zu reduzieren, wenn beispielsweise keine Bilder mehr doppelt angefertigt werden. In dem Fall w\u00fcrde dann die Software anzeigen, dass dieses Bild vor einem halben Jahr schon einmal gemacht wurde und jeder Behandler darauf zugreifen kann. Hilfreich w\u00e4re KI sicherlich auch im Hinblick auf die Medikation, wenn beispielsweise bei multipler Medikamenteneinnahme Vorsicht geboten ist. Das w\u00fcrde einerseits die Nebenwirkungen reduzieren und andererseits die Behandlungskosten senken.<\/p>\n\n\n\n

Wie kann KI Zahn\u00e4rzte k\u00fcnftig im \u00adTherapieverlauf, in der UPT und in der Langzeitbegutachtung unterst\u00fctzen?<\/strong>
Wie bereits erw\u00e4hnt, k\u00f6nnen Zahn\u00e4rzte schon jetzt die Vorteile in der bildgebenden Diagnostik nutzen, vor allem bei R\u00f6ntgenbildern. Knochenabbauprogression l\u00e4sst sich beispielsweise schon gut mittels KI erkennen. In einem weiteren Schritt k\u00f6nnten gingivale Rezessionen zum Beispiel auf Fotos erfasst und im Verlauf beobachtet werden. Knackpunkt ist hier die Standardisierung der Bilder, im Bereich KFO\/Aligner-Technology werden hierf\u00fcr ja teilweise schon standardisierte Kameras eingesetzt. Generell gilt: Sobald Daten routinem\u00e4\u00dfig erhoben und ausgelesen werden k\u00f6nnen, ist der Einsatz von KI sinnvoll und extrem hilfreich, denn Zahn\u00e4rzte sind oft unter Druck und haben deshalb nicht immer jedes Detail im Blick.<\/p>\n\n\n\n

Stichwort Konzeptbehandlung: K\u00f6nnte mithilfe von KI bereits am Anfang eine Entscheidungsfindung stattfinden, zum Beispiel, ob der Fall \u201enichtchirurgisch\u201c gel\u00f6st werden kann?<\/strong>
Im Hinblick auf eine Konzeptbehandlung spielt KI sicherlich zuk\u00fcnftig eine gro\u00dfe Rolle. Da der Patient in der Regel \u00fcber einen langen Zeitraum regelm\u00e4\u00dfig in der Praxis erscheint, verf\u00fcgt die Praxis \u00fcber viele historische Patientendaten. All diese Daten zusammenzubringen und auszuwerten w\u00fcrde den Zahnarzt viel Zeit kosten. Gerade wenn es darum geht, aus der historischen Datenf\u00fclle ein holistisches Therapiekonzept abzuleiten, ist der Einsatz von KI besonders effektiv und empfehlenswert; zumal nicht jeder Zahnarzt die Voraussetzungen und die Erfahrung mitbringt, ein holistisches Konzept zu erstellen. Im ersten Schritt erwarte ich, dass KI-Anwendungen aus Daten zumindest Handlungskorridore ableiten. KI k\u00f6nnte zum Beispiel anzeigen, wo im Verlauf an welcher Stelle eine chirurgische Behandlung m\u00f6glicherweise indiziert und wo eine regenerative Behandlung zielf\u00fchrend w\u00e4re. Die Therapiewahl bleibt aber schlussendlich beim Behandler.<\/p>\n\n\n\n

Viele Zahnmediziner treibt die Angst um, dass KI die \u00e4rztliche Freiheit einschr\u00e4nkt \u2026<\/strong>
\u2026 Nein, denn bei den KI-Empfehlungen handelt es sich ja lediglich um Optionen: Innerhalb des oben beschriebenen Handlungskorridors werden nur evidenzbasierte M\u00f6glichkeiten vorgeschlagen \u2013 und vielleicht auch aktiv vor bestimmten, nicht angezeigten Ma\u00dfnahmen gewarnt. Die Wahl trifft dann aber der Behandler zusammen mit dem Patienten. In der Zahnmedizin gibt es leider in den wenigsten Bereichen ausreichend starke Daten, die erlauben w\u00fcrden, genau EINE Therapie zu empfehlen \u2013 in vielen F\u00e4llen ist die Evidenz daf\u00fcr gar nicht ausreichend. KI-basierte \u201eKochbuchmedizin\u201c sehe ich also nicht!<\/p>\n\n\n\n

An welchem Punkt ist denn KI aktuell in der Parodontologie angelangt?<\/strong>
Die eingangs beschriebenen Tools werden nun allm\u00e4hlich n\u00fctzlich, zun\u00e4chst im Bereich der Diagnostik: Diese Tools erlauben dem Zahnarzt eine vergleichsweise schnellere und systematischere Befundung und damit auch eine bessere Diagnostik. F\u00fcr den Patienten bedeutet es mehr Sicherheit, denn die KI-Unterst\u00fctzung fungiert als fundierte \u201eZweitmeinung\u201c. Das alles bietet Zahn\u00e4rzten, Patienten und dem Gesundheitssystem schon jetzt einen gro\u00dfen Nutzen. Vom \u201eheiligen Gral\u201c f\u00fcr die Parodontologie, also genau zu wissen, welcher Zahn wie behandelt werden muss oder welcher Zahn nicht gehalten werden kann , sind wir derzeit noch weit entfernt: Erste Ans\u00e4tze Richtung vorhersagebasierter Parodontologie gibt es aber bereits!<\/p>\n\n\n