{"id":7417,"date":"2022-09-29T08:46:31","date_gmt":"2022-09-29T06:46:31","guid":{"rendered":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/?p=7417"},"modified":"2022-09-30T14:36:27","modified_gmt":"2022-09-30T12:36:27","slug":"alleine-schafft-es-keiner","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/alleine-schafft-es-keiner\/","title":{"rendered":"Alleine schafft es keiner!"},"content":{"rendered":"\n

\u00c4ltere und auch pflegebed\u00fcrftige Menschen haben zunehmend eigene Z\u00e4hne, technisch aufwendigen Zahnersatz oder Implantate im Mund. Die Prothesen nachts raus ins Glas \u2013 das war gestern. Heute stehen wir in der Mundpflege vor einer Vielzahl neuer Herausforderungen. Pflegekr\u00e4fte, pflegende Angeh\u00f6rige oder die Betroffenen selbst brauchen Anleitung und Unterst\u00fctzung, wenn die Mundpflege bedarfsgerecht und erfolgreich gelingen soll.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

In den vergangenen drei Jahren hat eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Pflegeexperten und Zahn\u00e4rzten unter der Leitung von Pflegewissenschaftlerin Prof.\u2006Dr. Erika Sirsch und koordiniert vom Deutschen Netzwerk f\u00fcr Qualit\u00e4tsentwicklung in der Pflege (DNQP) an der Hochschule Osnabr\u00fcck, einen Expertenstandard als abgestimmtes Leistungsniveau f\u00fcr die F\u00f6rderung der Mundgesundheit in der Pflege entwickelt (www.dnqp.de).
F\u00fcr die Umsetzung der Mundpflege-Empfehlungen in den verschiedenen Pflegesettings H\u00e4uslichkeit, Krankenhaus sowie ambulante und station\u00e4re Langzeitpflege wurde zeitgleich eine internet\u2027basierte Informations- und Schulungsplattform entwickelt (www.mund-pflege.net).
Initiator der Plattform ist Prof.\u2006Dr. Harald Mehlich von der Hochschule Neu-Ulm. Die Plattform soll auf allen digitalen Endger\u00e4ten \u2013 perspektivisch bei schlechtem Internetempfang auch als App \u2013 jederzeit Antworten auf die relevanten Fragen zur Mundgesundheit geben. Insbesondere stehen dabei Ma\u00dfnahmen bei pflegerischem Unterst\u00fctzungsbedarf im Vordergrund. Das Plattform-Projekt wird durch das Bundesministerium f\u00fcr Bildung und Forschung gef\u00f6rdert (F\u00f6rderkennzeichen: 13FH024SX8). Die Plattform ist seit 1. Juli 2022 online und der Zugang kostenfrei.
Dr. Elmar Ludwig ist Mitinitiator von \u201emund-pflege.net\u201c. Er ist in Ulm in einer Gemeinschaftspraxis niedergelassen und hat im Jahr 2014 einen Kooperationsvertrag mit einer Einrichtung der station\u00e4ren Langzeitpflege geschlossen.<\/p>\n\n\n\n

Herr Dr. Ludwig, Sie sind federf\u00fchrend an dem Konzept \u201emund-pflege.net\u201c beteiligt. Es scheint, dass dieses Projekt ein Herzensanliegen f\u00fcr Sie ist. Was hat Sie dazu bewogen, als Zahnarzt dieses Projekt mit zu initiieren und was erhoffen Sie sich davon?<\/strong>
Dr. Elmar Ludwig: Seit Jahren beobachte ich im Praxisalltag Unsicherheiten der Pflegekr\u00e4fte im Umgang mit komplexem Zahnersatz und bei der Mundpflege am Waschbecken beziehungsweise am Bett, wenn es um Ergonomie und die Ber\u00fccksichtigung der Aspirationsgefahr geht. Zudem ist der Blick in die Mundh\u00f6hle nicht gut geschult \u2013 wie und wohin muss ich eigentlich schauen und was ist bei Auff\u00e4lligkeiten zu tun? Wann muss ich einen Zahnarzt holen? Die Plattform kann hoffentlich dazu beitragen, Br\u00fccken zu bauen und Barrieren zu \u00fcberwinden. Ich war und bin deshalb Prof. Mehlich sehr dankbar, dass er im Jahr 2019 auf mich zukam und mich fragte, ob ich Lust h\u00e4tte, bei dem Projekt mitzuwirken.<\/p>\n\n\n\n

Wie betreuen Sie momentan geriatrische beziehungsweise pflegebed\u00fcrftige Patienten mit Unterst\u00fctzungsbedarf in Ihrer Praxis<\/strong>?
Zum einen betreue ich eine station\u00e4re Pflegeeinrichtung in Ulm \u00fcber einen Kooperationsvertrag. Zweimal im Jahr besuchen wir anlassunabh\u00e4ngig die Bewohner vor Ort, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Einige kommen dann zu notwendigen Behandlungen in die Praxis, bei anderen erfolgt die Behandlung in der Einrichtung. Zudem gehe ich jede Woche ein- bis zweimal in die Einrichtung und mache kleinere Behandlungen oder kurze Kontrollen, zum Beispiel nach Zahnextraktionen, nach Unterf\u00fctterungen oder um Zahnfleischtaschen zu sp\u00fclen. \u00dcber die Jahre hat der stetige Kontakt zu den Pflegekr\u00e4ften auch dazu gef\u00fchrt, dass ich h\u00e4ufiger gerufen werde, um Auff\u00e4lligkeiten abzukl\u00e4ren. Dies ist f\u00fcr die Bewohner eigentlich der gr\u00f6\u00dfte Nutzen des Kooperationsvertrags.
In der Praxis betreue ich zudem eine \u00e4hnlich gro\u00dfe Zahl an Menschen, die noch zu Hause leben, die aber so fit sind, dass der Besuch in der Zahnarztpraxis problemlos m\u00f6glich ist. Einige Menschen besuche ich auch zu Hause oder ohne Kooperationsvertrag in anderen Pflegeeinrichtungen, zum einen, wenn ich die Menschen noch nicht kenne, entweder um mir selbst zun\u00e4chst ein Bild zu machen, oder wenn der Aufwand f\u00fcr einen Transport in die Praxis unverh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig gro\u00df ist.<\/p>\n\n\n\n

Behandeln Sie auch in den Pflegeeinrichtungen vor Ort und wie erleben Sie die Situation dort?<\/strong>
In den Pflegeeinrichtungen f\u00fchre ich die Behandlungen meist in den Zimmern der Bewohner \u2014 oder unter Ber\u00fccksichtigung der Privatsph\u00e4re \u2014 auch mal in Gemeinschaftsr\u00e4umen durch. Ich nutze dabei keine mobile Behandlungseinheit, sondern lediglich einen mobilen Motor ohne Wasser. Ein eigenes Behandlungszimmer habe ich nicht. So bin ich in der Einrichtung sichtbarer, beanspruche das Pflegepersonal nur soweit unbedingt n\u00f6tig und halte die Risiken f\u00fcr Komplikationen eher gering.
Grunds\u00e4tzlich ist es noch ein langer Weg, bis alle Menschen die Unterst\u00fctzung bei der Mundpflege bekommen, die sie brauchen. Aber die Ressourcen sind ja sehr knapp bemessen und die Verunsicherung ist nach wie vor gro\u00df.<\/p>\n\n\n\n

An welchen Stellen hakt es in der Pflege am meisten in Bezug auf die orale Gesundheit der pflegebed\u00fcrftigen Patienten?<\/strong>
Vor allem ist die Mundpflege \u2013 wenn es etwas aufwendiger ist \u2013 im Gegensatz zu anderen Verrichtungen der t\u00e4glichen K\u00f6rperhygiene wie das Waschen oder die Rasur nicht routiniert. Das hat mit der gro\u00dfen Vielfalt im Mund zu tun: Eigene Z\u00e4hne, verschiedene Verbindungselemente bei herausnehmbarem Zahnersatz oder Implantate. \u00c4ltere Pflegekr\u00e4fte sollen die j\u00fcngeren in der Pflege anleiten, haben aber selbst in ihrer Ausbildung nur wenig mehr als die Totalprothese und Schleimhautpflege kennengelernt \u2013 was soll man da erwarten? Im Hinblick auf die Fortbildung gibt es f\u00fcr die Pflege bis heute auch noch viel zu wenig Angebote. Dazu kommt die Angst vor Abwehr oder vor Bissverletzungen und nicht zuletzt spielt der Ekel vor Speiseresten, Bel\u00e4gen und Schleim im Mund eine nicht unerhebliche Rolle. Dabei kann Z\u00e4hneputzen s\u00fcchtig machen, wenn man wei\u00df, wie es geht!<\/p>\n\n\n\n

Wie gestalten Sie die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal vor Ort?<\/strong>
Zun\u00e4chst einmal komme ich nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Das macht keinen Sinn. Im Gegenteil lobe ich immer, wenn ich gerufen werde und ich nehme mir hier und da Zeit f\u00fcr ein pers\u00f6nliches Gespr\u00e4ch. Das schafft Vertrauen und steigert die Bereitschaft, f\u00fcr die Mundpflege offen zu sein. Zudem haben sich Praxisanleiter-Einheiten, zum Beispiel im Rahmen der Mundgesundheitsaufkl\u00e4rung, sehr bew\u00e4hrt, um das Thema Mundgesundheit in der Pflege best\u00e4ndig weiterzuentwickeln. Hier schule ich ohne Zeitdruck gleichzeitig die langj\u00e4hrig erfahrenen Pflegefachkr\u00e4fte und die Auszubildenden in der Pflege. Auch vor dem Hintergrund der generalistischen Pflegeausbildung macht dies unbedingt Sinn. Je fr\u00fcher Pflegekr\u00e4fte im Rahmen ihrer Ausbildung die richtigen Impulse bekommen \u2013 egal im welchem Setting sie sp\u00e4ter t\u00e4tig sind \u2013, umso eher wird die Mundpflege, wo es n\u00f6tig ist, unterst\u00fctzt. Wir Zahn\u00e4rzte leisten mit dieser Ma\u00dfnahme einen wertvollen Beitrag zur Mundgesundheit f\u00fcr Menschen mit pflegerischem Unterst\u00fctzungsbedarf.<\/p>\n\n\n\n

Und hier kommt nun \u201emund-pflege.net\u201c ins Spiel. An wen richtet sich die Plattform und wie ist die Website strukturiert \u2026?<\/strong>
Genau \u2013 die Plattform soll sich zur gemeinsamen Kommunikationsbasis entwickeln. Egal, ob auf dem PC, am Tablet oder \u00fcber das Dienst-Smartphone, wenn es eines gibt, \u2013 immer wieder soll die Plattform Gelegenheit bieten, das eigene Wissen zur Mundgesundheit zu erweitern.
In erster Linie richtet sich die Plattform an alle professionell Pflegenden, aber auch an Zahn\u00e4rzte und insgesamt gerne auch an alle Menschen, die mit der Mundpflege unterst\u00fctzungsbed\u00fcrftiger Menschen befasst sind.
Die Website ist themenorientiert strukturiert: Anatomie, Zahn\u00e4rztliche Versorgungen, Auff\u00e4lligkeiten & Probleme, Pflegemittel & Anwendung, Unterst\u00fctzung, Ern\u00e4hrung, Allgemeinerkrankungen, Ansprechpartner & Links, Notfallhilfe sowie Aus- & Fortbildung. Mit drei Klicks von der Frage zur Antwort! Wichtig war es uns, die Navigation bildgest\u00fctzt intuitiv und bei h\u00e4ufiger Anwendung auch \u00fcber eine Schnellnavigation zu erm\u00f6glichen. Eine Suchfunktion erlaubt es zudem, Begriffe direkt abzufragen.<\/p>\n\n\n\n

Welche Tools beziehungsweise Lernelemente werden dort eingesetzt?<\/strong>
Der Expertenstandard ist ja eine eher abstrakte Beschreibung des Mundpflegeprozesses. Dort finden sich keine Abbildungen. Auf der Plattform haben wir dagegen sehr viele Abbildungen, zum Beispiel zu verschiedenen Formen von Zahnersatz, zu Auff\u00e4lligkeiten und Problemen im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich wie auch Videos zu allen m\u00f6glichen Ma\u00dfnahmen der Unterst\u00fctzung bei der Mundpflege implementiert. Die Pflegeszenen werden dabei nach und nach digitalisiert, um die Anschaulichkeit weiter zu steigern. Perspektivisch sollen in der Plattform auch Elemente der Augmented Reality beziehungsweise der Virtual Realitiy aufgenommen werden. Man richtet dann das Smartphone auf einen Bewohner und \u00fcber das Display wird eine ergonomische K\u00f6rperhaltung zur Unterst\u00fctzung der Mundpflege gezeigt, die gleichzeitig die Aspirationsgefahr des unterst\u00fctzungsbed\u00fcrftigen Menschen im Blick hat.<\/p>\n\n\n\n

Welchen Nutzen bietet das ganz konkret f\u00fcr den Pflegealltag?<\/strong>
Ich verspreche mir von der Plattform, dass Zahn\u00e4rzte, Pflegekr\u00e4fte und gerne \u00fcbrigens auch \u00c4rzte eine gemeinsame Sprache entwickeln und sich alle an einheitlichen und abgestimmten Empfehlungen orientieren k\u00f6nnen. Das ist in meinen Augen die Voraussetzung f\u00fcr die F\u00f6rderung der Mundgesundheit in der Pflege.<\/p>\n\n\n\n

Und wie k\u00f6nnen Zahn\u00e4rzte diese Tools\/Lernelemente \u2013 f\u00fcr das Praxisteam und das Pflegeteam \u2013 f\u00fcr eine bedarfsgerechte Behandlung beziehungsweise Betreuung Pflegebed\u00fcrftiger einsetzen?<\/strong>
Bis heute empfehlen viele Zahn\u00e4rzte, Prothesen \u00fcber Nacht im Mund zu belassen oder Prothesen mit Seife zu reingingen. Diese Ideen sind \u00fcberholt und entsprechen nicht den Empfehlungen des Expertenstandards. Zudem sind Zahn\u00e4rzte unsicher, wenn es um die Empfehlungen zur Unterst\u00fctzung der Mundpflege geht, egal ob am Waschbecken oder erst recht am Bett. Oder wie man mit einer Kompresse den Mund auswischen, aber ebenso auch befeuchten kann, wie bei Demenz die Mundpflege am besten gelingt und wie Abwehr bei der Mundpflege \u00fcberwunden werden kann. Das alles haben Zahn\u00e4rzte im Studium und auch die Mitarbeiter in den Zahnarztpraxen in ihrer Ausbildung nicht gelernt. Die Plattform l\u00e4sst sich \u00fcbrigens auch ideal direkt f\u00fcr Schulungen der Pflegekr\u00e4fte oder die individuelle Anleitung beim Menschen mit Unterst\u00fctzungsbedarf nutzen.<\/p>\n\n\n