{"id":88,"date":"2021-10-18T19:05:45","date_gmt":"2021-10-18T17:05:45","guid":{"rendered":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/?p=88"},"modified":"2023-05-26T13:26:23","modified_gmt":"2023-05-26T11:26:23","slug":"wurzelkaries-empfehlungen-fuer-die-praxis","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/teamwork-zahnmedizin.de\/wurzelkaries-empfehlungen-fuer-die-praxis\/","title":{"rendered":"Wurzelkaries \u2013 Empfehlungen f\u00fcr die Praxis"},"content":{"rendered":"\n

Wurzelkaries ist eine Kariesform, die zunehmend h\u00e4ufig vor allem bei \u00e4lteren Patienten auftritt. Herausforderungen bei der Versorgung von Wurzelkariesl\u00e4sionen sind zum einen die Lokalisation und Morphologie und zum anderen die mitunter schwer zu behandelnden \u00e4lteren Patienten selbst. Evidenzbasierte Empfehlungen zur Versorgung von Wurzelkaries zielen eher auf pr\u00e4ventive und noninvasive, als auf restaura\u00adtive Versorgungsans\u00e4tze ab. Der folgende Artikel bietet einen \u00dcberblick \u00fcber pathogenetische und epidemiologische Aspekte und gibt konkrete Empfehlungen f\u00fcr die Versorgung von Wurzelkaries in der Praxis.<\/p>\n\n\n\n

Karies<\/strong>
Karies ist die h\u00e4ufigste Erkrankung der Menschheit; fast jeder Mensch leidet irgendwann in seinem Leben an Karies. Lange Zeit wurde Karies als Infektionskrankheit verstanden, bei der bakterielle Erreger zu einer Infektion der Zahnhartgewebe und ihrer anschlie\u00dfenden Aufl\u00f6sung durch S\u00e4uren f\u00fchren. Mittlerweile wird jedoch postuliert, dass nicht die Anwesenheit oder die Menge des Biofilms entscheidend sind, sondern Umweltbedingungen (vor allem die Verf\u00fcgbarkeit fermentierbarer Kohlenhydrate) die Biofilmpathogenit\u00e4t bestimmen. Der dentale Biofilm ist normalerweise nicht kariogen, da er nur von einer geringen Zahl an s\u00e4urebildenden und s\u00e4uretoleranten Bakterien besiedelt wird. Erst die Kohlenhydratzufuhr erlaubt es diesen Bakterien, mittels S\u00e4ureproduktion den Umgebungs-pH-Wert zu senken und somit andere physiologische Bakterien zu verdr\u00e4ngen und eine \u00f6kologische Nische zu schaffen. Wiederholte Kohlenhydratzufuhr ver\u00e4ndert schlussendlich den Biofilm nachhaltig; nur ein solcher Biofilm ist dann auch in der Lage, ausreichende S\u00e4uremengen zu produzieren, die zu einer Netto-Demineralisierung der Zahnhartsubstanz f\u00fchren [9]. Diese Demineralisation des Zahns ist nicht Ziel der Bakterien, sondern eine zuf\u00e4llige Begleiterscheinung.
Ausgehend von diesem Verst\u00e4ndnis kann die Pathogenit\u00e4t des Biofilms aber auch die Balance zwischen De- und Remineralisierung modifizieren: Statt einer vor allem restaurativ ausgerichteten Karies\u00adtherapie wird heute vor allem versucht, Karies zu verhindern oder vorhandene L\u00e4sionen zu arretieren, unter anderem durch mechanische oder chemische Biofilm- und Ern\u00e4hrungskontrolle oder Kontrolle der De- und Remineralisierung mittels Fluoriden (diese Ma\u00dfnahmen werden nachfolgend detaillierter beschrieben).<\/p>\n\n\n\n

Herausforderung Wurzelkaries<\/strong>
Die genannten Ma\u00dfnahmen in der h\u00e4uslichen Zahnpflege, der Gruppenprophylaxe und im Zahnarztstuhl haben unter anderem dazu beigetragen, dass Karies bei Kindern und Jugendlichen scheinbar auf dem R\u00fcckzug ist [3,\u20097]: Das durchschnittliche zw\u00f6lfj\u00e4hrige Kind in Deutschland weist nunmehr nur noch 0,5 kari\u00f6se oder gef\u00fcllte Z\u00e4hne auf \u2013 ein R\u00fcckgang um fast 90\u2009% seit den 1970ern! Dieser Erfolg steht denn auch im Mittelpunkt der \u00f6ffentlichen Wahrnehmung, wird aber durch eine Reihe von Feststellungen getr\u00fcbt: Erstens sei auf den ausbleibenden Pr\u00e4ventionserfolg bei den Hochrisikokindern hingewiesen \u2013 eine kleine Gruppe, die jedoch eine hohe Karieserfahrung aufweist. Zweitens, und Fokus des vorliegenden Artikels, gibt es neben der Schmelzkaries auch noch weitere Kariesformen, zum Beispiel \u00adSekund\u00e4r- und\/oder Wurzelkaries.
Letztere entsteht auf freiliegenden Wurzeloberfl\u00e4chen, an denen nur eingeschr\u00e4nkt Biofilmentfernung stattfindet, beispielsweise approximal oder bei generell unzureichender Mundhygiene. Freiliegende Wurzeloberfl\u00e4chen sind zudem aufgrund ihrer Beschaffenheit \u2013 freiliegendes Dentin oder Wurzelzement \u2013 deutlich anf\u00e4lliger f\u00fcr Karies und demineralisieren fr\u00fcher und schneller. Neben der Demineralisierung durch S\u00e4uren wird die organische Matrix des Dentins durch bakterielle und dentineigene Enzyme aufgel\u00f6st [8]. Die Aufl\u00f6sung der Kollagenmatrix beschleunigt die Zerst\u00f6rung und verhindert ab einem bestimmten Aufl\u00f6sungsgrad, dass eine Remineralisierung des Dentins m\u00f6glich ist. Wurzelkaries weist auch eine andere Morphologie als Schmelzkaries auf: Die L\u00e4sionen sind oftmals sch\u00fcsself\u00f6rmig und damit theoretisch auch reinigungsf\u00e4hig. Umgekehrt sind Wurzelkariesl\u00e4sionen allerdings nicht retentiv; eine restaurative Versorgung der L\u00e4sionen ben\u00f6tigt daher oft adh\u00e4sive Materialien \u2013 wobei dann die N\u00e4he zur Gingiva, eine erschwerte Trockenlegung und Matrizenapplikation die Therapie anspruchsvoll machen.
Wurzelkaries kommt erst in h\u00f6herem Alter vor, da oft erst hier die Wurzel\u00adoberfl\u00e4chen freiliegen (oftmals als Ergebnis eines parodontalen Knochenabbaus [4]. Wurzelkaries ist gerade deshalb in einer alternden Gesellschaft relevant. Bei einer wachsenden Zahl an \u00e4lteren Menschen, die \u00fcber zunehmend mehr eigene Z\u00e4hnen verf\u00fcgen, ist Wurzelkaries ein doppelt wachsendes Ph\u00e4nomen! Ein Blick in die Zahlen der Deutschen Mundgesundheitsstudien best\u00e4tigt dies: Die Zahl der kari\u00f6sen Wurzelfl\u00e4chen pro Kopf in der Bev\u00f6lkerung stieg von 0,27 in 1997 \u00fcber 0,71 in 2005 auf 0,91 in 2014 (Tab.\u20061). Unter Ber\u00fccksichtigung des demografischen Wandels und der Bev\u00f6lkerungsentwicklung hei\u00dft dies, dass sich die Gesamtzahl kari\u00f6ser Wurzelfl\u00e4chen von circa 21 Millionen auf mehr als 70 Millionen verdreifacht hat \u2013 innerhalb von knapp 20 Jahren [7]. Wurzelkaries k\u00f6nnte somit mittelfristig die h\u00e4ufigste Form der Karies in Deutschland werden, da \u00adSenioren die einzig wachsende Altersgruppe sind, diese Altersgruppe deutlich mehr Z\u00e4hne als fr\u00fcher hat und die Last an Parodontitis und damit an freiliegenden Wurzeloberfl\u00e4chen in h\u00f6herem Alter ansteigt.<\/p>\n\n\n\n

<\/td>Altersgruppe<\/strong><\/td>Kari\u00f6se<\/strong> Wurzel\u00adfl\u00e4chen <\/strong>
pro Kop<\/strong>f<\/td>
Kari\u00f6se Wurzelfl\u00e4chen<\/strong>
insgesamt (in Mio.)<\/strong><\/td><\/tr>
DMS III (1997)<\/td>35\u201344-J\u00e4hrige
65\u201374-J\u00e4hrige
Gesamtbev\u00f6lkerung<\/td>
0,37
0,39
0,27<\/td>
4,7
2,9
21,0<\/td><\/tr>
DMS IV (2005)<\/td>35\u201344-J\u00e4hrige
65\u201374-J\u00e4hrige
Gesamtbev\u00f6lkerung<\/td>
0,45
1,27
0,71<\/td>
6,3
11,6
55,5<\/td><\/tr>
DMS V (2014)<\/td>35\u201344-J\u00e4hrige
65\u201374-J\u00e4hrige
Gesamtbev\u00f6lkerung<\/td>
0,94
1,43
0,91<\/td>
9,4
12,1
70,1<\/td><\/tr><\/tbody><\/table>
Tab. 1 – Anzahl der kari\u00f6sen Wurzelfl\u00e4chen in unterschiedlichen Bev\u00f6lkerungsgruppen in den Deutschen Mundgesundheitsstudien (DMS) III\u2013V.<\/figcaption><\/figure>\n\n\n\n

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Herausforderungen f\u00fcr die Praxis<\/strong>
Nicht nur die Tatsache, dass die Anzahl der Wurzelkariesl\u00e4sionen drastisch zugenommen hat und in Zukunft wahrscheinlich weiter zunehmen wird, stellt eine Herausforderung f\u00fcr das Praxisteam dar. Auch die Ma\u00dfnahmen zur Pr\u00e4vention und Therapie von Wurzelkaries k\u00f6nnen eine Herausforderung sein. Wurzelkaries\u00adl\u00e4sionen unterschieden sich n\u00e4mlich nicht nur pathogenetisch, sondern auch morphologisch von koronaler Karies. Aus diesem Grunde sind klassische restaurative Therapiekonzept, wie sie in der Praxis zur Versorgung von koronaler Karies eingesetzt werden, weniger effektiv, beziehungsweise manchmal \u00fcberhaupt nicht durchf\u00fchrbar. Wurzelkariesl\u00e4sionen k\u00f6nnen in schwer zug\u00e4nglichen Bereichen, wie Approximalr\u00e4umen liegen, weshalb bei einem restaurativen Vorgehen viel gesunde Zahnhartsubstanz geopfert werden muss. In ausgedehnten Kavit\u00e4ten kann sogar die Extraktion des betroffenen Zahns unumg\u00e4nglich sein (Abb.\u20061). Restaurationen von Wurzelkariesl\u00e4sionen weisen zudem oft eine schlechtere Haltbarkeit auf als koronale Restaurationen [2], da ihre sch\u00fcsself\u00f6rmige Form wenig Retention bietet und der adh\u00e4sive Verbund zum zugrunde liegenden Substrat \u2013 dem Wurzeldentin \u2013 weniger zuverl\u00e4ssig funktioniert im Vergleich zum Schmelz. Die N\u00e4he zur Gingiva erschwert dabei die Matrizenapplikation und Trockenlegung \u2013 und damit die Wirksamkeit des Adh\u00e4sivs \u2013 zus\u00e4tzlich.
Auch die Behandlung \u00e4lterer Patienten, die ja die Hauptrisikogruppe f\u00fcr Wurzelkaries bilden, f\u00fchrt h\u00e4ufig zu Herausforderungen im Praxisalltag. So sind viele Patienten dieser Gruppe aufgrund von altersbedingten Ver\u00e4nderungen nicht mehr in vollem Umfang behandlungsf\u00e4hig. Einschr\u00e4nkungen in der Mobilit\u00e4t, insbesondere bei pflegebed\u00fcrftigen Patienten, k\u00f6nnen es notwendig machen, diese Patienten au\u00dferhalb der Zahnarztpraxis zu betreuen. Die Nutzung von Ger\u00e4ten und Materialien, die in der Zahnarztpraxis zur Verf\u00fcgung stehen, ist also bei der Behandlung dieser Patienten stark limi\u00adtiert. Auch die Effektivit\u00e4t h\u00e4uslicher Mundhygienema\u00dfnahmen, die nicht nur zur Wurzelkariespr\u00e4vention, sondern bei vorhandener Wurzelkaries auch zur Behandlung eingesetzt werden, l\u00e4sst durch altersbedingte Einschr\u00e4nkungen nach. Versorgungskonzepte f\u00fcr Wurzelkaries bei \u00e4lteren Patienten zielen daher auf risikoadaptierte Pr\u00e4ventionsma\u00dfnahmen und rechtzeitige, minimalinvasive Behandlungsma\u00dfnahmen ab.<\/p>\n\n\n\n

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