Fachbericht

Alterszahnheilkunde

05.01.22

Zähne nach Maß

Individuelle abnehmbare Prothetik

Hybridprothetik, konventionelle Totalprothetik, Teilprothetik

Dr. Dr. Dagmar Schnabl

11 – Die neuen Prothesen im Mund: Der Kreuzbiss wurde prothetisch kompensiert

Auch in Zeiten der CAD/CAM-Technik in der Totalprothetik besteht noch Bedarf an der konventionellen Anfertigung abnehmbaren Zahnersatzes. Eine dysgnathe Kieferrelation, unterschnittige Kieferkämme oder ein hoher Anspruch an Ästhetik und Individualität erfordern – ebenso wie die Einbeziehung von Pfeilerzähnen oder Implantaten – eine individuell abgestimmte prothetische Planung bei der Rehabilitation un- oder teilbezahnter Patienten. Dies wird anhand von drei Fallberichten illustriert.

Fragen zum Patientenfall
Hat die konventionelle Herstellung von Totalprothesen auch im CAD/CAM‑Zeitalter noch ihre Berechtigung?

Besondere anatomische Gegebenheiten wie eine dysgnathe Kieferrelation oder unterschnittige Kieferkämme sowie hohe ästhetische Ansprüche werden zum jetzigen Zeitpunkt als Kontraindikation für die CAD/CAM-Fertigung von Totalprothesen mit einer reduzierten Anzahl an Behandlungssitzungen angesehen. Die Anpassung der Wachswälle im Mund und eine Wachsprobe ermöglichen eine individuelle Zahnaufstellung und eine optimale Weichteilunterstützung.

Welche Faktoren bedingen den langfristigen Erfolg von abnehmbarem Zahnersatz?
Guter Sitz, eine optimale Einstellung der Okklusion und eine gute Ästhetik fördern die Akzeptanz von abnehmbarem Zahnersatz. Ein regelmäßiges Recall mit eventueller Unterfütterung oder Anpassung, Aktivieren von Halteelementen und professioneller Reinigung der Prothesen und vorhandener Pfeilerzähne oder Implantate samt Suprakonstruktion im Sinne einer Prophylaxe und/oder einer Parodontal- beziehungsweise Periimplantitisbehandlung tragen zum langfristigen Erfolg abnehmbarer Prothetik bei.

Seit einigen Jahren besteht vor allem in der Totalprothetik der Trend zur „schnellen“ Prothesenherstellung mittels CAD/CAM-Technik. Deren Vorteile gegenüber der konventionellen Prothesen­anfertigung sind eine reduzierte Anzahl an Behandlungssitzungen, eine optimale Prothesenpassung, eine optimierte Oberflächenbeschaffenheit und eine einfache Reproduzierbarkeit im Fall von Prothesenverlust [4-6]. Als Nachteile werden unter anderem die Nicht-Anwendbarkeit bei dysgnather Kieferrelation und bei starker Kieferkammresorption oder ­-unterschnittigkeit genannt [3,4]. Auch hohe ästhetische Ansprüche und der Wunsch nach individueller Zahnaufstellung sind Kontraindikationen für die CAD/CAM-Fertigung von Prothesen. Die totalprothetische Versorgung dieser komplizierteren Fälle sowie die abnehmbare Teil- und Hybridprothetik bleiben vorerst die Domäne der konventionellen Vorgehensweise. Die Behandlungsberichte dreier Patientinnen mit unterschiedlichen Ausgangssituationen sollen dies demonstrieren.

Fall 1: Kompensation des Kreuzbisses
Die 69-jährige Patientin stellte sich mit der Bitte um funktionelle und ästhetische Verbesserung ihrer Gebisssituation an der Abteilung für Zahnersatz und Zahnerhaltung vor. Äußerlich fielen eine progene Bisslage und eine Asymmetrie der Unterlippe auf (Abb. 1a bis c), die schon seit der Jugend bestanden, wie ein mitgebrachtes Foto dokumentiert (Abb. 2). Die Patientin trug festsitzend-abnehmbaren Zahnersatz im Oberkiefer und eine insuffiziente Teilprothese mit Frontzahnklammern im Unterkiefer. Es bestand ein zirkulärer Kreuzbiss. Im Schlussbiss standen die Seitenzähne nur teilweise in okklusalem Kontakt (Abb. 3). Das Orthopantomogramm zeigte einen tief kariösen Molaren und vier endodontisch behandelte anteriore, mit einer Geschiebebrücke verbundene Zähne im Ober- und drei Schneidezähne im Unterkiefer (Abb. 4). In den Röntgen-Einzelbildern stellte sich zudem eine tiefe Karies bei Zahn 23 dar (Abb. 5a und b).
Folgender Behandlungsplan wurde anhand einartikulierter Modelle aufgestellt und mit der Patientin besprochen:
Im Oberkiefer: Entfernung der Wurzelkaries und Füllungstherapie mit Komposit an dem vitalen Molaren. Abnahme der Frontzahnbrücke und Prüfung der Zähne auf Erhaltungswürdigkeit, gegebenenfalls Versorgung mit Stiftkappen und Kugelankern. Anfertigung einer Metallgerüstprothese mit einer Klammer und Kugelkopfmatrizen.
Im Unterkiefer: Insertion von zwei Implantaten zur Aufnahme von Locator-Ankern (Zest Dental Solutions). Nach deren Einheilung Extraktion der für die prothetische Endversorgung unbrauchbaren Frontzähne und die Anfertigung einer Hybridprothese. Mit den neuen Prothesen sollte eine Regelverzahnung mit regulärem Frontzahnüberbiss aufgestellt werden. Die Patientin war mit diesem Plan einverstanden. Ihr war neben der Ästhetik vor allem ein guter Halt der Prothesen wichtig.
Die Umsetzung des Behandlungsplans erfolgte schrittweise. Der Molar im ersten Quadranten konnte mit der Füllungs­therapie vital erhalten werden. Nach Abnahme der Oberkiefer-Frontzahnbrücke wurden die (festen) Zähne 12, 11, 21 und 23 nach Kariesentfernung ausgeschachtet, nachpräpariert, abgeformt und provisorisch verschlossen. Die vorhandene Skelettprothese wurde nach Ergänzung der Zähne 12 bis 23 als Provisorium getragen. Im Unterkiefer war während der (offenen) Einheilung der Implantate in den Regionen 33 und 43 (Straumann RN, 4,1  mm / 10  mm, Straumann) die ausgeschliffene Prothese weiter in Funktion. Nach der Entfernung der Schneidezähne unter Glätten des Kieferkamms wurde die um die Zähne 31 bis 42 ergänzte und weich unterfütterte Prothese für einige Wochen bis zur Eingliederung der neuen Prothese weiterverwendet.

Die Abbildungen 6 bis 13 veranschaulichen den weiteren Behandlungsablauf:
Einprobe der Wurzelkappen 12, 11, 21 und 23 (Abb. 6) vor der Überabformung mit einem Silikonmaterial (Affinis ­monobody; Coltène Whaledent) zur Herstellung eines Meistermodells; Anfertigung eines Metallgerüsts mit Platz für die Aufnahme von Dalbo plus-Matrizengehäusen (Cendres + Métaux) (Abb. 7); definitiv eingesetzte Wurzelkappen mit aufgelöteten Kugeln (Abb. 8); eingeschraubte Locator-Attachments im Unterkiefer (Abb. 9); fertiggestellte Prothesen von der Basis (Abb. 10a und b); eingegliederte Prothesen (Abb. 11); Porträtbilder der zufriedenen Patientin (Abb. 12a bis c) und Orthopantomogramm nach Abschluss der Behandlung (Abb. 13).

Nach der sorgfältigen Anpassung von Wachswällen nach ästhetischen und funktionellen Gesichtspunkten (Phonetik) unter Einstellung der vertikalen Dimension und nach Überprüfung der Zahnaufstellung anhand einer Wachsprobe war es keine Überraschung, dass die Patientin auf Anhieb mit ihren neuen Zähnen gut zurechtkam. Sie betreibt gute Mund- und Prothesenhygiene und kommt vierteljährlich zur Kontrolle. Bei Bedarf ist ein Aktivieren der Dalbo plus-Matrizen und der Klammer beziehungsweise ein Austauschen der Locator-Matrizen möglich.

Fall 2: Verbesserung von Ästhetik und Retention
Auch diese Patientin äußerte den Wunsch nach schöneren, gut haltenden Zähnen, als sie im Alter von 82 Jahren zur Erstkonsultation kam.
Sie trug eine nicht mehr gut haltende Oberkiefer-Totalprothese und eine lockere Unterkiefer-Teilprothese, die mit Klammern an zwei Frontzähnen befestigt war (Porträt, Abb. 14; Orthopantomogramm, Abb. 15).

Die Behandlungsplanung war bei eu­gnather Kieferrelation, gutem Oberkiefer- und atrophem Unterkiefer-Alveolarkamm (Abb. 16 und 17) relativ einfach: Extraktion der nicht erhaltungswürdigen Restzähne, bei Fehlen von Kontraindikationen Setzen von zwei interforaminalen Implantaten und Versorgung mit einer neuen Oberkiefer-Total- und einer Unterkiefer-Locatorprothese.
Nach dem Einheilen der Implantate (Straumann RN, 4,1  mm / 10 mm) wurde das übliche Protokoll der Prothesenanfertigung [1] eingehalten: Alginatabformung beider Kiefer; Funktionsabformung im Oberkiefer mit einem individuell angepassten Löffel mit Permlastic (Kerr), Silikonabformung (Affinis monobody) des Unterkiefers unter offener Implantatabformung; Anpassung von Wachswällen auf Schablonen unter Einstellung der Untergesichtshöhe und Bissnahme; Wachsprobe; Eingliederung der fertiggestellten Prothesen. Die Patientin wünschte kein Diastema zwischen den oberen Einsern. Ein Jugendfoto diente als Vorlage für die individualisierte Zahnaufstellung (Abb. 18). Die Abbildungen 19 bis 22 zeigen das Ergebnis:
Unterkiefer mit den eingeschraubten Locator-Ankern (Abb. 19); Prothesen im Mund (Abb. 20); Porträts der Patientin halb ernst und lachend (Abb. 21a und b) und das Orthopantomogramm (Abb. 22).
Die Patientin erfreut sich ihrer neuen Prothesen seit über zwei Jahren und kommt regelmäßig zum Recall.

Fall 3: Verbesserte Einstellung der Okklusionsebene
Die 71-jährige Patientin war unzufrieden mit der Ästhetik ihrer seit vielen Jahren getragenen Prothesen, die durch eine posterior abgesunkene Okklusionsebene und einen fehlenden Bukkalkorridor ein ungünstiges Aussehen bewirkten (Abb. 23a und b, Abb. 24). Das mitgebrachte, alio loco mit der oberen Prothese im Mund angefertigte Orthopantomogramm zeigte eine hochgradige Knochenatrophie im Oberkiefer, eine ausgeprägte Weichteilhyperplasie im Bereich der Tubera maxillares, zum Teil stark parodontal abgebaute Restzähne im anterioren Unterkiefer sowie eine apikale Beherdung eines endodontisch behandelten Prämolaren im dritten Quadranten (Abb. 25). Die Abbildung 26 illustriert die ausladenden „Schlotterkämme“ in der Tuberregion beidseits.
Der Behandlungsplan umfasste mehrere Schritte: Im Oberkiefer sollte ohne chirurgische Intervention beziehungsweise Abtragung des Schlotterkamms eine neue Totalprothese angefertigt werden. Im Unterkiefer wurde die Extraktion der zweitgradig gelockerten Zähne 41 und 42 sowie des beherdeten Prämolaren und – nach Abheilung der Extraktionswunden – die Herstellung einer neuen Modellgussprothese mit Auflegern und Klammern an den beiden Eckzähnen geplant.
Bei der Umsetzung wurde besonderer Wert auf die Einstellung der Okklusionsebene nach der Camperschen Ebene gelegt. Dabei musste aufgrund der voluminösen Tubera der Bisswall im posterioren Bereich des Oberkiefers sehr niedrig gehalten werden (Abb. 27). Ein Foto aus der Jugendzeit gab einen Anhalt für die Zahnaufstellung (Abb. 28). Die Patientin hatte schon damals relativ schmale Lippen und entblößte beim Lachen viel Zahnfleisch und kleine Seitenzähne. Mit den neuen Prothesen wurde die Untergesichtshöhe etwas erhöht. Die Abbildungen 29a und b dokumentieren das verbesserte Erscheinungsbild mit dem neuen Zahnersatz. Im Rahmen der üblichen Prothesen-Nachsorge wurden Druckstellen vor allem im unter sich gehenden Bereich der Tubera ausgeschliffen. Seither trägt die Patientin ihre Prothesen ohne Probleme. Die Abbildung 30 zeigt die Prothesen im Mund, die Abbildung 31 das Orthopantomogramm drei Jahre nach Abschluss der Behandlung.


Diskussion
Ästhetik und Individualität sind bei der Generation aktiver Senioren durchaus gefragt. Besondere anatomische Gegebenheiten und spezielle Ansprüche geben dem Behandlerteam die Gelegenheit, Erfahrung, Gespür und technische Fertigkeiten einzusetzen. Dabei ist es sinnvoll, sowohl bei der Beurteilung der Ausrichtung der angepassten Wachswälle (räumliche Dimension, Mittellinie, sagittaler und vertikaler Überbiss) als auch bei der Wachsprobe den Zahntechniker hinzuzuziehen, sodass eventuell notwendige Adaptionen gemeinsam mit dem Patienten erarbeitet werden können. Guter Sitz, eine optimale Einstellung der Okklusion (Okklusionsebene parallel zur Camperschen Ebene, rutschfreie zentrische Okklusion, störungsfreie Exzentrik) und ansprechendes Design des Zahnersatzes fördern die Akzeptanz. Dabei muss nicht immer die technisch aufwendigste Behandlungsvariante zum Einsatz kommen: Im zahnlosen Oberkiefer ist in den meisten Fällen mit einer konventionellen Totalprothese ein zufriedenstellendes Ergebnis erreichbar. Im Unterkiefer genügen oft zwei interforaminal gesetzte Implantate für einen akzeptablen Prothesenhalt, insbesondere wenn im Oberkiefer eine schleimhautgetragene Totalprothese vorhanden ist. Eine gute Einschulung in Mund- und Prothesenhygiene und ein kontinuierliches Recall tragen zum langfristigen Erfolg des Zahnersatzes bei [2].

Danksagung
Herzlicher Dank gebührt Dr. Dr. Stefan Gerhard für die chirurgische Behandlung der ersten und zweiten Patientin sowie Gabriele Pfurtscheller für die zahntechnische Planung und Ausführung bei der ersten und zweiten Patientin und ­­Ztm. Günther Rechfeld für die zahntechnische Arbeit bei der dritten Patientin.

Literaturverzeichnis unter www.teamwork-media.de/literatur

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