Fachbericht

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11.04.22

Zahnunfall – was tun?

Verletzungsarten und Therapieempfehlungen bei Frontzahntrauma im Milchgebiss

Avulsion, Diagnostik, Hartsubstanzverletzung, Luxation, Milchgebiss, Therapie

Dr. Nelly Schulz-Weidner, Prof. Dr. Norbert Krämer

14 – Dieselbe Patientin; vollständige Reeruption der Zähne 51 und 61 nach zwölf ­Wochen

Gefahren lauern überall: Jedes fünfte Kind erleidet im Kleinkindalter einen Zahnunfall. Neben Verletzungen der Zahnhartsubstanz treten dabei vor allem Luxationsverletzungen auf, deren Ausmaß und Auslenkungsrichtung die Therapieentscheidung vorgibt. Nach einem Trauma im Milchgebiss hat der Schutz des bleibenden Zahnkeims neben der Beseitigung einer eventuell bestehenden Schmerzsymptomatik oberste Priorität.

Zahnunfälle im Milchgebiss finden am häufigsten in der Zeitspanne vom zweiten bis vierten Lebensjahr statt. Mehr als 20 Prozent aller Kleinkinder erleiden ein solches Ereignis [1, 2]. Verletzt werden vor allem die mittleren oberen Schneidezähne des Oberkiefers [3]. In der ersten Dentition herrschen dabei die Luxationsverletzungen vor, im bleibenden Gebiss überwiegen Zahnhartsubstanzdefekte wie unkomplizierte und/oder komplizierte Kronenfrakturen [1, 3].

Herausforderung Zahnverletzung
Die Therapie von Zahnverletzungen hängt neben deren Ausmaß auch vom Entwicklungsstand des Gebisses und der Compliance des Kindes ab. Die Reife des Kindes ist nicht selten dafür entscheidend, wie und in welcher Form die Therapie durchgeführt werden kann. Oftmals werden Zahnverletzungen im Milchgebiss auch von den Eltern unterschätzt, obwohl sich aus anfänglich harmlos aussehenden Unfallverletzungen durchaus die Notwendigkeit langfristiger Nachbehandlungen bis ins Erwachsenenalter ergeben kann.
Erschwerend kommt neben der oft unzureichenden Compliance junger Kinder hinzu, dass das Zahntrauma nicht zu den Vorkommnissen der zahnärztlichen Routine im Praxisalltag gehört und der Behandler meist unvorbereitet eine sowohl schnelle als auch kompetente diagnostische Entscheidung treffen muss. Verschiedene Informationssysteme können in diesem Kontext eine wertvolle Unterstützung sein, um wichtige Therapien und Nachsorgekriterien im Blick zu haben. Es empfiehlt sich ein standardisiertes Vorgehen, welches zum Beispiel basierend auf einem Traumabogen erfolgen kann [4, 5, 6,7]. Neben dem dadurch erleichterten Therapievorgehen eignet sich ein Traumabogen auch für die umfassende Dokumentation der Verletzung und leistet damit erfahrungsgemäß auch gute Dienste im Hinblick auf eventuelle Versicherungsbelange. Die sich anschließende Therapie hat neben der Schmerzausschaltung den Schutz des bleibenden Zahnkeims zum obersten Ziel.

Klassifikation der Verletzungsarten
Grundsätzlich wird zwischen Verletzungen der Zahnhartsubstanz und Luxationsverletzungen unterschieden. Im Hinblick auf Verletzungen der Zahnhartsubstanz können Schmelzrisse, unkomplizierte und komplizierte Kronenfrakturen, Kronen-Wurzel-Frakturen sowie Wurzelfrakturen auftreten. Bei den Luxationsverletzungen unterscheidet man je nach Ausmaß und Richtung der traumatisch bedingten Auslenkung des Zahns aus seiner ursprünglichen Position die Konkussion, Subluxation, Extrusion, laterale Luxation, Intrusion und die Avulsion. Häufig finden sich Kombinationsverletzungen [7].

Diagnostik
Die Diagnostik der Zahnverletzungen basiert auf der Anamnese sowie der klinischen und radiologischen Befundaufnahme [2, 3, 7]. Die klinische Untersuchung orientiert sich dabei von extraoral nach intraoral. Hinsichtlich der Röntgenaufnahmen ist in Bezug auf das junge Alter des Kindes zu sagen, dass bei unzureichender Kooperation für eine Röntgenaufnahme zumindest ein klinisches Foto gemacht werden sollte, um für die Nachsorge einen Ausgangsbefund zu haben.

Therapie
Das Behandlungsziel nach einem Zahntrauma sollte die Schmerzfreiheit und die bestmögliche und zeitnahe Versorgung des traumatisierten Zahns sein. Zur Hilfestellung können verschiedene öffentlich zugängige Systeme genutzt werden, die der Minimierung von Folgeschäden und Komplikationen dienen und somit die optimale Sofort- und Spättherapie gewährleisten sollen [4, 7]. Den Recall-Untersuchungen kommt vor allem im Hinblick auf die möglichen Komplikationen und deren Erkennung sowie Therapie eine große Bedeutung zu. Auch hier findet sich die zeitliche Orientierung im oben genannten System. Bei den häufiger vorkommenden Luxationen zeigt sich, dass bei weniger starken Verletzungen oftmals ein abwartendes Verhalten möglich ist, während bei schweren Verletzungen häufig die Extraktion nicht zu umgehen ist [3].

Therapie von Zahnhartsubstanz­verletzungen
Bei einer Verletzung der Zahnhartsubstanz können der Zahnschmelz und das Dentin betroffen sein. Der Schmelzfraktur gegenüber steht die Schmelz-Dentin-Fraktur; beide werden zu den unkomplizierten Kronenfrakturen gezählt. Die komplizierte Kronenfraktur beschreibt den Zahnhartsubstanzverlust mit direkter Eröffnung der Pulpa (Abb. 1).
Bei den unkomplizierten Schmelz-Dentin-Frakturen gebührt der direkten adhäsiven Versorgung des Dentins Aufmerksamkeit, damit eine nachfolgende Infektion des Pulpasystems über die Verbindung der Dentintubuli zum Endodont vermieden werden kann (Abb. 2 und 3). Bei der komplizierten Kronenfraktur ist eine Therapie mit Ausrichtung auf den Vitalerhalt der Pulpa erforderlich. Je nach Größe und Expositionszeit der Pulpa gegenüber dem Mundmilieu kann eine Pulpotomie oder Pulpektomie vorgenommen werden [2]. Aufgrund mangelnder Compliance und der Vermeidung einer risikobehafteten Intubationsnarkose/Sedierung zur Durchführung oben genannter Maßnahmen erfolgt jedoch häufig als Sofortmaßnahme eine Extraktion des verunfallten Zahns [6]. Unter Berücksichtigung von Alter und Compliance des Kindes sollte bei der angedachten Therapie auch abgewogen werden, inwiefern eine umfangreiche Therapie im Verhältnis zur Verweildauer und Wertigkeit des Zahns im Mund des Patienten stattfinden sollte. Bei Kronen-Wurzelfrakturen ist die Prognose zum Zahnerhalt immer infaust und zieht deshalb eine Extraktion nach sich (Abb. 4).

Luxationsverletzungen
Zahnlockerungen und Luxationen treten in unterschiedlichem Ausmaß auf und schädigen in erster Linie das Parodont [8]. Man unterscheidet die Konkussion, die ohne Lockerung und Verlagerung, aber mit erhöhter Perkussionsempfindlichkeit einhergeht, von der Subluxation, die mit einer Lockerung und einer Blutung aus dem PA-Sulkus einhergeht (Abb. 5).
Bei beiden Verletzungsarten ist vor allem die Schonung des Zahns wichtig. Zusätzlich zur Empfehlung weicher Kost kann die Applikation von Chlorhexidin-Gel (0,1 %) als chemische Desinfektion im Bereich der verunfallten Region eine empfohlene optimierte Mundhygiene unterstützen [3, 7]. Als Traumafolgen können sich Verfärbungen durch Obliterationen oder Pulpanekrosen einstellen (Abb. 6) [7].
Bei den schwereren Luxationsverletzungen gibt das Ausmaß der Auslenkung die Therapie des verunfallten Zahns vor. Neben Paro -und Endodont können auch Gingiva und Alveolarknochen und somit der bleibende Zahnkeim verletzt sein [8].
Bei der lateralen Luxation ist der Zahn nach palatinal beziehungsweise lingual oder vestibulär ausgelenkt. Die Sofortmaßnahme zielt vor allem auf eine Schonung des bleibenden Zahnkeims ab. Der Schutz des Zahnkeims hat dabei immer oberste Priorität [1–3, 7]. Die Gefahr der Komplikation im Sinne eines Keimschadens hängt dabei neben dem Alter des Patienten von der Art der Auslenkung und damit von der Lagebeziehung des verunfallten Zahns zum Zahnkeim ab. Beim Alter gilt: Je jünger der Patient, desto höher ist das Risiko eines Keimschadens. Je nach Ausmaß der Auslenkung kann der luxierte Zahn entweder belassen oder muss extrahiert werden. Die röntgenologische Diagnostik gibt dabei den wichtigen Hinweis für die durchzuführende Therapie, da sie die genaue Lagebeziehung des verunfallten Zahns in Bezug zum Zahnkeimzeigt (Abb. 7 und 8).
Bei einer Luxation ohne enge Lagebeziehung zum Zahnkeim und ohne Okklusionshindernis empfiehlt sich ein abwartendes Verhalten mit engmaschiger Nachsorge (Abb. 9).
Der Zahnerhalt bei extrusiver Dislokation ist nur dann möglich, wenn keine Gefahr einer Keimschädigung des bleibenden Zahns besteht und/oder der Zahn ohne Störkontakt in der Mundhöhle belassen werden kann (Abb. 10). Eine aktive Repositionierung sollte aufgrund der Verletzungsgefahr des bleibenden Zahnkeims unterbleiben. Häufig stellt sich bei kleineren Dislokationsverletzungen eine spontane Repositionierung ein [7].
Jegliche Therapie beinhaltet immer auch die Aufklärung der Eltern über mögliche Traumafolgen und Komplikationen sowie eine engmaschige Kontrolle [6].
Bei Intrusionsverletzungen ist das Risiko einer Keimschädigung durch die Zentralluxation in Richtung des Zahnkeims am höchsten [9, 10]. Als Folge können Strukturanomalien wie zum Beispiel Hyperplasien und Dilazerationen oder auch pathologische Röntgenbefunde, zum Beispiel Dentikel und interne Resorptionen, auftreten [11] (Abb. 11). Die Therapie der Intrusion als prognostisch ungünstigste Verletzung der Zähne hängt auch wieder von der Art der Intrusionsauslenkung ab. Zeigt das Röntgenbild eine enge Lagebeziehung des intrudierten Zahns zum bleibenden Keim, muss der Zahn entfernt werden. Ansonsten kann auf eine spontane Reeruption gewartet werden (Abb. 12 bis 14).
Die Avulsion bedeutet frühzeitiger Zahnverlust der ersten Zähne, da aufgrund der Gefahr der Schädigung des bleibenden Zahnkeims auf eine Replantation verzichtet werden muss und lediglich eine Wundversorgung der verunfallten Region erfolgen sollte [7].

Grenzen der Zahnerhaltung
Neben den bereits beschriebenen Verletzungssituationen muss neben der Gefahr der Schädigung des bleibenden Zahnkeims bei Längsfrakturen und auftretenden Komplikationen – zum Beispiel Pulpanekrose, osteolytische Prozesse, Ausbleiben der Reeruption und/oder drohende Durchbruchsstörungen der Zähne – die Extraktion des verunfallten Zahns erfolgen [3, 7].

Nachsorge
Die Nachuntersuchung dient vor allem der Früherkennung von möglichen Komplikationen nach traumatischen Verletzungen. Die zeitliche Orientierung findet sich in Informationssystemen wie den Dental Trauma Guidelines (tw Tipp) [4]. Grundsätzlich sollte die Nachkontrolle eines verunfallten Milchzahns bis zum Zeitpunkt des Durchbruchs des Nachfolgers erfolgen, um einen Keimschaden auszuschließe oder therapieren zu können.

Fazit
Das Frontzahntrauma am Milchzahn stellt für den behandelnden Zahnarzt eine große Herausforderung dar. In Bezug auf die Therapie stehen die vorausschauende Behandlung, welche vor allem vom Entwicklungsstand des Kindes abhängt, und die Erstversorgung im Vordergrund. Anfangs harmlos aussehende Unfallverletzungen im Milchgebiss können durchaus die Notwendigkeit einer komplexen Behandlung im bleibenden Gebiss nach sich ziehen. Hinzu kommt, dass die Behandlung von Traumapatienten duch die Akutproblematik als Einschubbehandlung im Routinepraxisbetrieb stattfinden muss. Im speziellen Fall des Traumas im Milchgebiss steht vor allem der Schutz des bleibenden Zahnkeims bei der Therapieentscheidung im Mittelpunkt.

tw Nachgefragt:
Welches Prozedere empfehlen Sie, wenn Eltern und Kind direkt nach einem Zahnunfall in die Praxis kommen?
Dr. Nelly Schulz-Weidner: Zunächst sollte natürlich die Dringlichkeit der Akuttherapie geklärt werden (starke Schmerzen, Blutung, Verdacht auf Fraktur). Darüber hinaus gilt: Ruhe bewahren und Eltern und Kind beruhigen. Es empfiehlt sich immer ein standardisiertes Vorgehen, um eine adäquate Diagnostik durchzuführen, zum Beispiel analog DGZMK-Traumabogen. Je nach Verletzungsart erfolgt daraufhin im Anschluss die entsprechende Akuttherapie.

Dr. Nelly Schulz-Weidner ist seit 2009 Oberärztin im Zentrum für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde, Poliklinik für Kinderzahnheilkunde (Leitung Prof. Dr. Dr. N. Krämer) der Justus-Liebig-Universität Gießen/ Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der zahnärztlichen Versorgung von Kindern mit Allgemeinerkrankungen. Weitere Stationen sind:
2002: Promotion zum Dr. med. dent. am Fachbereich Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen „Häufigkeit und PCR-Typsierung von Candida albicans aus der Mundhöhle und dem Magen-Darm-Trakt bei Kindern mit naturgesunden und kariösen Gebissen “
2007: Spezialistin für Kinder- und Jugendzahnheilkunde der DGKIZ und DGZ
seit 2008: Patenschaftszahnärztin des Arbeitskreises für Jugendzahnpflege in Gießen

Die Literaturliste finden Sie hier.

Dental Trauma Guidelines
Die International Association of Dental Traumatology (IADT) gibt Orientierung bei Früherkennung von Komplikationen: Microsoft Word – 1 IADT GUIDELINES Cover Page.doc (iadt-dentaltrauma.org)

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