Interview

Standpunkte

15.02.22

Da geht noch was!

Vereinfachung in der digitalen Zahnmedizin

digitale Zahnmedizin, Prozesse, Vereinfachung

Natascha Brand

Prof. Dr. Jan-Frederik Güth ist Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik am Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Carolinum) der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er arbeitet und forscht, unter anderem in internationalen Kooperationen (USC, NDU, UFSC), in den Bereichen CAD/CAM, digitale Abformung, Genauigkeitsanalyse von Workflows, biomimetische Zahnheilkunde, monolithische Restaurationen und innovative Werkstoffe.

Mit fortschreitender Digitalisierung wird der Praxisalltag laufend komplexer. Dennoch bietet die moderne digitale Zahnmedizin mit ihren zahlreichen Optionen Potenzial zur Strukturierung und Verschlankung. Das spart zum einen Arbeitszeit, die für andere Aufgaben in der Praxis genutzt werden kann und kommt zum anderen der Ergebnisqualität zugute. Prof. Dr. Jan-Frederik Güth beschäftigt sich mit der Vereinfachung von Arbeitsschritten im digitalen Behandlungsablauf und erläutert, warum dies gerade für große Praxen und Kliniken Sinn macht.

Herr Prof. Güth, Sie widmen sich dem Thema Vereinfachung in der digitalen Zahnmedizin. Warum ist das denn überhaupt nötig?
Der zahnärztliche Beruf wird unter anderem immer komplexer aufgrund zunehmender Bürokratie und steigendem Verwaltungsaufwand. Hinzu kommen stetig neue Technologien und Materialentwicklungen sowie gut informierte Patienten mit zu Recht hohen Erwartungen. All das erfordert – gewissermaßen als Gegenpol – eine Vereinfachung für die Routineprozesse. Das kommt der Praxis sowie dem prothetischen Team Zahnarzt/ Zahntechniker zugute und erhöht die Qualität der Therapie für unsere Patienten.

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Es lässt sich gut am Beispiel einer implantatgetragenen Einzelkrone erläutern. Dort nutzen wir heute dank digitaler Technologie das Konzept der „Hybrid­abutment-Krone“, das heißt, wir arbeiten auf einer Titan-Klebebasis, die mit einer monolithischen Restauration/Krone verklebt wird. Dieses Vorgehen ist einfach, wenig fehleranfällig und die Restauration kann zudem verschraubt werden, was das Risiko einer Periimplantitis, induziert durch eine Zementitis, senken kann. Das ist ein gutes Beispiel einer deutlichen Vereinfachung bei gleichzeitigen klinischen Vorteilen. Und das ist möglich dank des Einsatzes digitaler Technologie.
Im sogenannten Münchener Implantat-Konzept wird die Vereinfachung noch weitergeführt. Darin wird bereits während des operativen Eingriffs das Implantat gescannt, im Verlauf der Einheilphase wird die Restauration hergestellt und nach der Implantateinheilung bei der Wiedereröffnung die Krone eingesetzt. Das reduziert die Behandlungszeit, schafft eine hohe Versorgungsqualität und vereinfacht gleichzeitig die Herstellung der prothetischen Restauration.

Es gibt bereits viele erprobte klinische Konzepte, die in den Praxen tagtäglich erfolgreich angewandt werden. Wo sehen Sie denn noch Potenzial für die Vereinfachung im Bereich der klinischen Konzepte in der Praxis?
Der Funktionsbereich im digitalen Raum ist ein spannendes Thema. Als nächstes kommt die digitale Funktionseinbindung; hier existieren mittlerweile Systeme, basierend auf unterschiedlichen Technologien, die eine individuelle Aufzeichnung der Bewegungsbahnen und -muster erlauben. Damit gelangen wir zu mehr objektiver Diagnostik, objektiven Vermessungs- und Therapiemöglichkeiten. Damit muss der Zahnarzt Schienenpositionen nicht mehr nach Gefühl verändern, sondern kann diese millimeterweise bewegen oder sperren, entheben oder neue Positionen ausprobieren. Diese neue Option beinhaltet klinische Vorteile und auch Vereinfachungspotenzial, denn somit hat der Zahnarzt eine bessere Kontrolle über den Therapieverlauf.

Könnte man sagen, dass mit der Einbindung der funktionellen Kiefergelenkbewegungsaufzeichnung der digitale Workflow nun komplett darstellbar ist?
Ich weiß nicht, ob der digitale Workflow jemals als komplett bezeichnet werden kann. Zwar sind wir an den Schnittstellen schon relativ weit, sodass die Geräte miteinander kommunizieren können, jedoch entstehen dank der ständig wachsenden digitalen Möglichkeiten auch immer wieder neue Potenziale. So können zum Beispiel Daten plötzlich anders analysiert werden und daraus entsteht die Option, künstliche Intelligenz einzubinden, was die Evidenz in der Zahnmedizin erhöhen würde. Davon versprechen wir uns sehr viel für die zahnmedizinische Behandlung. Es werden immer wieder neue digitale Komponenten hinzukommen. Im Hinblick auf die restaurativen Schritte sind wir jedoch mit der Einbindung der funktionellen Kiefergelenkbewergungsdaten schon einen deutlichen Schritt weiter.

Tipp: Die vier häufigsten Fehler im Behandlungsablauf:

  • Keine Planung im Team
  • Zu früh zu viele Kompromisse
  • Mangelhafte und unklare Kommuni­kation im Team und mit dem Patienten
  • Überschätzung der eigenen Kompetenzen

… zurück zum Thema Vereinfachung…
… ja, im digitalen Workflow kann die Funktionseinbindung eine Vereinfachung darstellen, denn mit dem Intraoralscan eines Quadranten können gleichzeitig die Funktionsbewegungen aufgezeichnet werden. Das macht gegebenenfalls den Gesamtkieferscan mit auftretenden Verzügen verzichtbar. Dadurch benötigt der Zahnarzt weniger Scanzeit, hat gleichzeitig die funktionellen Bewegungsdaten erfasst und kann einen interferenzfreien Zahnersatz modellfrei herstellen. Dorthin wollen wir: Vereinfachung und Zeitersparnis bei höherer Qualität.

Wo sehen Sie das Potenzial für Vereinfachung an der Schnittstelle mit dem Labor?
Hier ist die Kommunikation ein wichtiger Punkt. Zahnarzt und Zahntechniker sollten in Echtzeit kommunizieren und gleichzeitig auf den Datensatz und alle nötigen Informationen zugreifen können, um fokussiert das gesteckte Planungsziel zu erreichen. Hilfreich dafür ist ein klar formulierter Laborauftrag und Checklisten. Gerade an dieser Schnittstelle kann die Digitalisierung im Sinne einer Standardisierung helfen.

Mittlerweile stehen auch viele unterschiedliche Technologien (additiv und subtraktiv) und entsprechende Materialien für die digitale Bearbeitung zur Verfügung. Wo sehen Sie hier Vereinfachungspotenzial für die Praxen?
Wir verfügen mittlerweile über homogene, biokompatible und -inerte, subtraktiv zu bearbeitende Materialien, die bereits heute zur Vereinfachung in der Praxis beitragen. Im Hinblick auf additive verarbeitete Materialien sehe ich kurzfristig Potenzial im Bereich druckbarer Provisorien oder Try-ins, aber auch im Bereich von festitzendem Einzelzahnersatz – wir starten dazu in Frankfurt gemeinsam mit der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik der LMU aktuell eine erste klinische Studie. Nur die Technologie allein bringt jedoch keine Vereinfachung, sondern es ist immer der damit einhergehende Arbeitsablauf, der das Potenzial bietet und abgestimmt werden muss.

Oftmals geht das Thema Vereinfachung gedanklich mit Einbußen einher, sei es in der Qualität, dem Preis, dem Umfang oder der Gewährleistung …
Im Gegenteil – Vereinfachung hat nichts mit Qualitätseinbuße zu tun; es geht keinesfalls um „quick and dirty“! Erzeuge ich mit Vereinfachung einen Rückschritt, habe ich an der falschen Stellschraube gedreht, denn die Qualität der Restauration beziehungsweise das Behandlungsergebnis darf keinesfalls schlechter werden. Vereinfachung in unserem Kontext bedeutet: Standardisierung des Arbeitsablaufs und der eingesetzten Materialien sowie das Definieren von Abläufen. Das erhöht die Qualität und schafft Freiräume beim Praxisteam, denn damit entfallen unnötige Wiederholungen, was sich langfristig auch in der Kostenstruktur der Zahnarztparaxis niederschlägt.
Es geht auch nicht darum, am Material zu sparen, also beispielsweise das günstigste Abformmaterial online zu bestellen, sondern beispielsweise den Prozess der Abformung so zu standardisieren, dass die Abformung beim ersten Mal präzise gelingt und nicht noch ein zweites Mal abgeformt werden muss und damit der Effekt der Materialersparnis „verpufft“.
Auch im Hinblick auf den Wissenstransfer ins ganze Praxisteam sind standardisierte Arbeitsschritte besser zu vermitteln, zu verstehen und umzusetzen, da der Zahnarzt damit eine klare Struktur mit „Kochrezepten“ vorgeben kann.

Für welche Praxen sind Standardisierungen besonders lohnenswert?
Gerade in großen Teams und Praxen lohnt es sich, die Arbeitsschritte und Prozesse genau unter die Lupe zu nehmen und Standards zu implementieren. Das spart Zeit, denn damit entfallen Reparaturen und Wiederholungen. Das wiederum schafft Kapazitäten für weitere Aufgaben im Praxisteam, was sich langfristig auch in der Kostenstruktur der Zahnarztpraxis niederschlagen sollte.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist: Fällt ein Behandler aus oder ist im Urlaub, kann jederzeit ein Kollege übernehmen und weiß genau, an welcher Stelle er im Prozess steht, wie und mit welchen Materialien die Therapie weitergeführt wird. Das schafft Vertrauen beim Patienten.

Bezogen auf die Nutzung digitaler Technologie im Alltag: Auf welche Vereinfachung möchten Sie nicht mehr verzichten?
Alexas Einkaufszettel finde ich Klasse, Ich kann jederzeit draufsprechen und somit vergesse ich weniger. Zudem schätze ich die Kalendersynchronisation und Webmeetings, beide vereinfachen meinen beruflichen wie auch privaten Alltag deutlich. Fachlich betrachtet halte ich den Intraorascanner für einen Segen, denn damit generiere ich viel Information in kurzer Zeit. Die einzelne Implantatkrone ist eine Indikation, bei der ich heute nicht mehr auf den Intaoralscanner verzichten würde. Das ist eine deutliche Vereinfachung gegenüber dem analogen Vorgehen.

„Nur die Technologie allein bringt keine Vereinfachung, sondern es ist immer der damit einhergehende Arbeitsablauf, der das Potenzial bietet und abgestimmt werden muss.“

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

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