Teambericht

Labside & Prothetik

21.10.21

Digitale Bissnahme bei der implanto­logischen Versorgung zahnloser Kiefer

Erfahrungen aus der Praxis: drei Patientenfälle – drei Workflows

Bisslagenbestimmung, Intraoralscanner, Totalprothese, zahnloser Kiefer

Dr. Nicolaus Bär

23 – Digitale Bisslagenbestimmung für die Herstellung einer neuen implantatprothetischen Restauration im zahnlosen Unterkiefer

Die direkte Digitalisierung der Zahn- und Kiefersituation gehört in vielen Zahnarztpraxen zum festen Bestandteil des Arbeitsalltags. Moderne Intraoralscanner und entsprechende Arbeitsprotokolle erlauben eine exakte digitale Erfassung und die Übertragung der Daten in die CAD-Software. Zudem bieten Intraoral­scanner interessante Applikationen und Möglichkeiten für die Diagnostik, die Planung und das Monitoring. Der Autor beschreibt einen Anwendungsbereich aus seinem Praxisalltag, bei dem ihm der In­traoralscanner wertvolle Dienste leistet: die Bestimmung der Bisslage im Rahmen einer implantologischen Rehabilitation zahnloser Kiefer. Anhand dreier verschiedener Situationen wird das Vorgehen dargestellt.

Die digitale intraorale Abformung etabliert sich in immer mehr Praxen und ist mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil moderner Zahnheilkunde geworden. Während in den Anfangsjahren die Funktionalität auf die reine Abformung beschränkt war, bieten Intraoralscanner heute Möglichkeiten, die weit über dieses Einsatzgebiet hinausgehen. Schritt für Schritt wurden in den vergangenen Jahren die Anwendungsbereiche der Intraoralscanner erweitert.
Die direkte Digitalisierung der Mund­situation bietet viele Vorzüge [7]. Effiziente, schlanke Prozesse vereinfachen den Arbeitsablauf. Gerade in der dentalen Implantologie gibt es viele Indikationen, in denen der Intraoralscanner ein hohes Potenzial aufweist. Beispielsweise können Intraoralscans der Ausgangssituation mit Daten aus der digitalen Volumentomografie (DVT) überlagert werden und als Grundlage für die ­Implantatplanung, zum Beispiel zur Fertigung einer Bohrschablone, dienen. Zudem kann auf Basis des intraoralen Datensatzes – im Sinne einer Sofortversorgung – bereits vor der Implantat­insertion ein Langzeitprovisorium CAD/CAM-gefertigt und unmittelbar nach dem chirurgischen Eingriff im Mund mit den Implantaten verschraubt werden [6]. Eine weitere interessante Möglichkeit im implantologischen Workflow ist die Option, direkt nach dem Einbringen des Implantats ­einen Scan mittels Scanpfosten vorzunehmen. Dadurch könnte – je nach implantologischem Konzept –­ ­beispielsweise die Restauration (Abutment und temporäre Versorgung) bereits während der Einheilphase gefertigt werden [3]. Dies sind nur einige Beispiele aus dem implantologischen Alltag, bei denen die direkte intraorale Datenerfassung angewandt werden kann.

Anwendungsvielfalt moderner ­Intraoralscanner
Die digitale Datenerfassung gestaltet sich heute deutlich einfacher als in ihren Anfangsjahren, als hauptsächlich die Chairside-Fertigung kleiner Restaurationen im Fokus stand [1]. Auch die Präzision hat sich deutlich verbessert [8, 9]. Studien zeigen, dass sowohl die Erfassung der regionalen Genauigkeit als auch die Genauigkeit eines Ganzkieferscans mit modernen Intraoralscannern dem konventionellen Vorgehen mindestens ebenbürtig sind [2]. Vielfach kann mit aktuellen Scannern eine Wiedergabegenauigkeit erreicht werden, die dem analogen Weg tendenziell überlegen ist [4, 5]. Doch den Intraoralscanner einzig als ­Abformungsersatz zu sehen, ist zu kurz gedacht. Moderne Systeme, wie die iTero Element Intraoralscanner von Align Technology, bieten darüber hinaus verschiedenste Software-Applikationen sowie smarte Apps. Interessante Zusatzfunktionen bereichern den Praxis­alltag und verbessern die Behandlung des Patienten. Interessante Möglichkeiten sind beispielsweise die patientenspezifische Simulation des Behandlungsergebnisses, das Monitoring von Zahnhartsubstanzdefekten, die Kariesdetektion oder das Matching mit anderen digitalen Datensätzen (DVT, Facescan) in der Diagnostik und Planung. Intraoralscanner werden zu assistierenden Systemen des Zahnarztes, denn die Scanner bieten unter anderem auf der Basis künstlicher Intelligenz (KI) analytisch präzise, zuverlässige Entscheidungshilfen. Kurz gesagt: Mit modernen Scannern kann die Aussagekraft einer zahnärztlichen Befundung erweitert und optimiert werden.

Bissbestimmung mit dem Intraoral­scanner – Darstellung dreier Patienten­fälle
Die digitale Bisslagenbestimmung mit dem Intraoralscanner ist im bezahnten Kiefer relativ einfach und leicht als Bisslagescan zu realisieren. Bei geschlossener Zahnreihe wird die Kamera an den vestibulären Flächen entlanggeführt und die statische Okklusion ermittelt. Die digitale Bissregistrierung punktet gegenüber konventionellen Methoden mit zeitsparendem Behandlungskomfort. Auf Silikonaufbisse zwischen den Zahnreihen kann verzichtet werden, ebenso auf eine fehleranfällige Übertragung in den physischen Artikulator. Die virtuellen Modelle von Ober- und Unterkiefer werden nach dem Scan der Bisssituation in der CAD-Software zusammengeführt. Sobald jedoch Stützzonen im Mund aufgelöst werden beziehungsweise der Patient zahnlos ist, wird die Bestimmung der Bisslage mittels Intraoralscanner schwieriger, aber nicht unmöglich.

Patient 1: Bisslagenbestimmung auf Basis der Restbezahnung
Am einfachsten gelingt die Zuordnung von Ober- zu Unterkiefer, wenn die Ausgangslage aus natürlichen Zähnen oder einem Provisorium mit Brückencharakter besteht. Bei dem 70-jährigen Patienten war im parodontal geschädigten Oberkiefer eine festsitzende implantologische Rehabilitation geplant (Abb. 1). In einem solchen Fall kann nach der Diagnostik die Ausgangssituation im Oberkiefer ­(Restbezahnung) mit dem ­Intraoralscanner (hier: iTero Element 2, Align Technology) erfasst werden. Ober- und Unterkiefer werden gescannt und die Bisssituation wird von vestibulär aufgenommen (Abb. 2 bis 4). Die Zuordnung des digitalen virtuellen Unterkiefermodells zum Oberkiefer für die Herstellung der Sofortversorgung gelingt in der Software durch den Abgleich der gingivalen Areale des Vorbehandlungsscans mit dem Implantatscan (Scanbodys) (Abb. 5 und 6). Die Daten der Scans dienten im vorliegenden Fall der CAD/CAM-gestützten Herstellung einer Sofortversorgung. In der CAD-Software wurde das virtuelle Modell des Oberkiefers dem Unterkiefermodell zugeordnet und das Langzeitprovisorium konstruiert sowie ­entsprechend ­hergestellt. Nach simultaner Explantation und navigierter Implantation von sechs Implantaten konnte die Sofortversorgung im Mund verschraubt werden (Abb. 7 und 8). Die ursprüngliche Bisslage des Patienten ist erhalten geblieben. Nach einer Tragedauer von sechs Monaten liefert das Langzeitprovisorium die gesicherte Grundlage für die ­definitive ­Bissregistrierung.

Patient 2: Bisslagenbestimmung im ­zahnlosen Ober- und Unterkiefer
Soll ein Patient, der seit vielen Jahren ­Totalprothesenträger ist, prothetisch neu versorgt werden, ist es oft sinnvoll, die gewohnte Bisslage zu übernehmen. Dies ist im digitalen Workflow gut machbar. In der praktischen Anwendung hat sich gezeigt, dass für die virtuelle Zuordnung der Kiefer zueinander keine Zahnhartsubstanz notwendig ist. Moderne Intraoralscanner erfassen nicht nur die Zahnsubstanz, sondern nehmen auch die Weichgewebesituation auf. Für das Überführen der Bisssituation von Prothesenträgern in die Software eignen sich Areale mit keratinisierter Gingiva. Selbst bei Vollprothesen im Ober- und Unterkiefer kann auf digitalem Weg der Biss registriert werden. Grundsätzlich ist die Aufgabenstellung an den Scanner umso einfacher, je mehr keratinisierte Gingiva erfasst werden kann. Sind in der Ausgangssituation weite Teile der Gingiva durch die Prothesenbasis bedeckt, stellt sich die Situation schwieriger dar. Zunächst scheint die Problematik unlösbar, doch unter bestimmten Voraussetzungen können dem Intraoralscanner ausreichend Informationen geliefert werden, um diese Rechenleistung zu vollbringen.
Im vorgestellten Fallbeispiel (Abb. 9 bis 17) war der Patient mit schleimhautgetragenen Vollprothesen versorgt. ­Geplant war eine implantatgetragene ­Restauration. Zunächst wurden Ober- und ­Unterkiefer mit inklinierten Prothesen via Vorbehandlungsscan des iTero-Scanners aufgenommen (Scan 1). Diese Funktion ermöglicht das direkte Umschalten zwischen Ausgangssituation und eigentlichem Präp-Kiefers. Die Prothesenränder müssen hierbei vollständig erfasst werden. Gerade im Gaumen bieten sich oft klare Strukturen, die der Scanner eindeutig erkennen kann. Das Scannen der Bisslage beziehungsweise die Zuordnung von Ober- zu Unterkiefer erfolgte auf Grundlage der bestehenden Prothesen. Anschließend wurden die zahnlosen Kiefer ohne Prothesen gescannt (Scan 2). Hierfür wurde am Intraoralscanner die sonst hilfreiche Funktion KI (= künstliche Intelligenz), die scheinbar überflüssigen Areale automatisch zurückschneidet, deaktiviert. Bei diesem Scan müssen die zahnlosen Kiefer bis in das Vestibulum erfasst und der ­distale Gaumenbereich in den Scan einbezogen werden (siehe Abb. 11 und 12). Dank der berührungslosen Abformung erfolgt dies ohne Unannehmlichkeiten für den Patienten.
Mit der Umschaltfunktion zwischen Scan 1 und 2 ließ sich prüfen, ob in der Software die Kiefer exakt zueinander ­positioniert wurden. Sollte die Menge der keratinisierten Gingiva nicht ausreichen, um dem Scanner eine eindeutige Zuordnung zu ermöglichen, kann die Prothese adaptiert werden. Hierfür wird ein kleines Segment aus der Prothesenbasis herausgetrennt und so die Gingiva für den Scan dargestellt. Anschließend kann die Prothesenbasis für den Rest der Tragezeit bis zu prothetischen Neuversorgung mit Kaltpolymerisat verschlossen werden.
Die Bissnahme erfolgte in der sicher definierten Position der Ausgangslage. Nachdem der Scanner auf die Funktion „Bissnahme“ eingestellt wurde, konnte die Kamera bei geöffnetem Mund so eingeführt werden, dass der distale Prothesenrand (Gaumenbereich) erfasst werden konnte. Nach dem Scannen des Gaumens wurde die Kamera ohne Unterbrechung des Scanvorgangs in das Vestibulum geführt. Der Patient nahm die Schlussbisslage ein. In einem Arbeitsschritt wurde der Biss von lateral erfasst. Dieses Vorgehen ist auf beiden Kieferseiten anzuwenden. Ergebnis ist die virtuelle Darstellung exakt zueinander positionierter Kiefer. Dieser Datensatz stand nun für die Weiterverarbeitung innerhalb des digitalen Workflows bereit. Die Kieferrelation der vorhandenen Prothesen wurde in die neue Versorgung übernommen (Abb. 15 bis 17). Selbstverständlich lässt sich die Okklusionsebene nach korrekter Übernahme der Kieferrelation neu definieren.

Patient 3: Bisslagenbestimmung im zahnlosen, implantologisch vorversorgten ­Unterkiefer
Auch im nächsten Beispiel wurde die vorhandene Bisslage in eine neue prothetische Versorgung überführt. Die Unterkiefer-Stegprothese auf vier interforaminären Implantaten sollte in ein ­implantatgetragenes Provisorium umgebaut werden (Abb. 18). Nach der Insertion von zwei zusätzlichen Implantaten (Anyridge, Megagen) im Molarenbereich (Abb. 19) wurden die Prothesenränder ­gekürzt, sodass bei der Bisslagenbestimmung eine Zuordnung über die ­Gingiva möglich war. Die Situation wurde mit (Scan 1) und ohne Zahnersatz (Scan 2) gescannt und die Daten miteinander abgeglichen (Abb. 20 bis 23). Zur Kon­trolle dienten kleine Perforationen im Bereich der distalen Implantate. Die vom ­Patienten gewohnte Bisslage konnte ohne ­großen Aufwand in die CAD-Software des Dentallabors zur Herstellung der neuen Restauration überführt werden (Abb. 24 bis 27). Aus Kostengründen wurden in diesem Fall nur die Stege abgetrennt und die Pfosten als Abutments weiterverwendet.

Zusammenfassung
Die digitale Bissnahme bei Prothesenträgern stellt eine Herausforderung dar, die mit überlegtem Vorgehen und entsprechendem Intraoralscanner gemeistert werden kann. Lange Zeit schienen Intraoralscanner-Systeme in ihren Einsatzgebieten auf kleine Areale und die Zahnhartsubstanz begrenzt. Mittlerweile setzte sich bei Zahnärzten die Erkenntnis durch, dass moderne Intraoralscanner auch für Full-Arch-Versorgungen [2, 9] und die präzise Darstellung von Weichgewebe geeignet sind. Dies ist in der Implantologie in vielen Anwendungsbereichen von Vorteil.
Im Artikel liegt der Fokus auf der Bisslagenbestimmung, die mit einem Intraoralscanner wie dem iTero Element 2 Scanner präzise erfolgen kann. Hierbei obliegt es der Erfahrung des Anwenders, die Möglichkeiten des Intraoralscanners voll auszuschöpfen. Gleichwohl muss festgestellt werden, dass gerade im zahnlosen Unterkiefer die Ausgangslage schwierig ist. Mit einem durchdachten digitalen Workflow ist dies meist möglich. Wünschenswert wären gesicherte Protokolle, sodass die Erfassung ausreichender Gingivaanteile für jeden Anwender zuverlässig möglich wird. Dies könnte beispielsweise durch die Reduktion einzelner Areale der Prothesenränder erfolgen. Grundsätzlich werden Intraoralscanner und Software stetig weiterentwickelt, sodass auch im Bereich der Kieferrelationsbestimmung weitere intelligente Applikationen und Lösungen zu erwarten sind.

Zahntechnische Realisation der gezeigten Patientenfälle: Zirkon Customs, Friedberg, und Dentaltechnik Schülner, Stockheim bei Kronach.

Hier finden Sie die Literatur: tw_2021_05_baer_lit.pdf (teamwork-media.de)

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