Fachbericht

Implantologie & Parodontologie

10.10.22

Mundgesundheit im medizinischen Kontext

Parodontitis und Entzündungsanämie bei älteren Patienten

Anämie, Mundgesundheit, Parodontitis

Alicia Maria Blasi, PD Dr. Dr. Greta Barbe, PD Dr. Gabriele Röhrig-Herzog, Prof.  Dr. Michal Noack

Caregiver take care asian elderly woman while using dental fross stick.

Aufgrund des demografischen Strukturwandels [1], müssen zukünftig immer mehr ältere ‧Patienten mit chronischen Grunderkrankungen, Pflegebedarf und manuellen Einschränkungen zahnmedizinisch versorgt werden. Deshalb müssen für die zahnmedizinische Betreuung ‧relevante chronische Erkrankungen auch in das Behandlungs- und Betreuungskonzept ‧einbezogen werden.

Ein häufiger Befund bei älteren Patienten ist eine Anämie (Blutarmut), definiert durch die WHO-Kriterien von 1986: Hämoglobin (Hb) < 12 g/dl bei erwachsenen Frauen und < 13 g/dl bei erwachsenen Männern in der laborchemischen Analyse [2]. In Anbetracht dessen, dass diese Kriterien bereits vor nahezu 50 Jahren festgelegt wurden und dabei keine Unterscheidung hinsichtlich ethnischer Zugehörigkeit oder Alter gemacht wurde, wird aktuell diskutiert, welche Hämoglobinwert-Untergrenze verwendet werden sollte, um Anämie insbesondere bei der älteren Bevölkerung zu definieren [3]. Für Europäer, die älter als 60 Jahre alt sind, können nach aktuellen Erkenntnissen die WHO-Grenzwerte herangezogen werden [4]. Bei Afroamerikanern liegen diese Grenzwerte niedriger [5]. Aktuell ist die noch gültige Empfehlung der WHO die am weitesten verbreitete einheitliche Definition einer Anämie, die zudem gute Vergleichsmöglichkeiten zwischen Studien ermöglicht.

Prävalenz
Je nach Lebenssituation variiert die Anämieprävalenz bei geriatrischen Patienten. Sie beträgt bei selbstständig lebenden Senioren ungefähr zehn Prozent [6,7]. Im Gegensatz zu diesen auf den ersten Blick niedrigen Prävalenzen zeigen Ergebnisse klinischer Studien bei Senioren, die in Pflegeeinrichtungen leben, Häufigkeiten von mehr als 40 Prozent. Senioren, die sich im stationären Aufenthalt in Akutgeriatrien befinden, weisen sogar eine Prävalenz von über 50 Prozent auf [8–12]. Eine Studie des dritten National Health and Nutrition Examination Survey ‧(NHANES 1991–1994) zeigte, dass hauptsächlich drei ätiologische Kategorien im Alter auftreten können: Anämie durch Nährstoffmangel, Anämie chronischer Erkrankung (früher „anemia of chronic disease“ ACD, heute eher „anemia of inflammation“ AI) und die Anämie ungeklärter Ursache („unexplained anemia“ UA). Der Anämie durch Nährstoffmangel liegt am häufigsten ein Eisenmangel zugrunde [6].

LaborparameterEntzündungsanämie
Hämoglobinvermindert
MCVnormal (ggf. leicht vermindert)
MCHnormal (ggf. leicht vermindert)
Transferrinsättigung (TSAT)normal bis vermindert
Ferritinerhöht
C-reaktives Proteinerhöht
Blutsenkungsgeschwindigkeiterhöht
Veränderung der Laborparameter bei Entzündungsanämie

Klinische Symptomatik
Chronische Anämien können einerseits asymptomatisch sein. Andererseits kann die verringerte Hb-Konzentration, die mit einer verminderten Sauerstoffkapazität des Blutes einhergeht, zu Müdigkeit, ‧Kopfschmerz und Kurzatmigkeit führen [13]. Obwohl bei älteren Menschen häufig nur eine leichte Form der Anämie (Hb > 11 g/dl) vorliegt, hat diese Einfluss auf eine erhöhte Mortalität [14–16]. Außerdem zeigt sich in Zusammenhang mit einer vorliegenden Anämie eine höhere Rate an Krankenhauseinweisungen [16], eine gesteigerte kognitive Beeinträchtigung [8], eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit mit einer erhöhten Sturzneigung [17] sowie ein erhöhtes Risiko für funktionelle Einschränkungen und geriatrischen Handlungsbedarf [10].
Müdigkeit, Kopfschmerz und Kurzatmigkeit sind Symptome, die auch im Rahmen einer zahnärztlichen Behandlung auffällig werden können. Gerade bei aufwendigeren Behandlungen können sie Einfluss auf die Behandlungsplanung haben.

Entzündungsanämie
Eine Anämie ist gekennzeichnet durch eine in der laborchemischen Analyse auffällige Verminderung der Hämoglobin (Hb)- Konzentration und oft auch des Hämatokrits (Hkt) sowie eine Verminderung der Erythrozytenzahl unter den Normbereich. Hb- und Hkt-Werte korrelieren miteinander. Während die Hb-Konzentration direkt gemessen wird, wird der Hkt berechnet. Daher wird in der Regel der Hb-Wert herangezogen, um das Vorhandensein einer Anämie einzuschätzen. Die Zahl der Erythrozyten korreliert nicht immer mit dem Hb und ist somit nicht als alleiniger ‧Parameter zur Bestimmung einer Anämie geeignet. Anämien lassen sich unter anderem anhand des mittleren korpuskulären Volumens (MCV = Hämatokrit x 10/Erythro‧zytenzahl) und des mittleren korpuskulären Hämoglobingehalts (MCH = Hämoglobinkonzentration des Blutes/Erythrozytenzahl), die miteinander korrelieren, einteilen [18].
Im Folgenden soll insbesondere auf die Entzündungsanämie (AI) eingegangen werden, da diese zum einen die häufigste Anämieform bei geriatrischen Patienten darstellt [19, 20], es zum anderen aber auch Hinweise aus der Literatur gibt, dass sie durch eine chronische Entzündung, wie zum Beispiel eine Parodontitis, beeinflusst wird [21, 22].
Die AI tritt vor allem im Zusammenhang mit sowohl akuten als auch chronischen Infektionen, Krebserkrankungen und Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis auf [23]. Die Erythrozyten haben in der Regel eine normale Größe (MCV = normal) und einen normalen Hämoglobingehalt (MCH = normal), sind aber in ihrer Anzahl reduziert (normozytäre, normochrome Anämie). Unter Langzeitbedingungen chronischer Erkrankungen können auch hypochrome und mikrozytäre Formen auftreten. Die wichtigsten Laborparameter der AI sind der Tabelle Laborparameter (Seite 18) zu entnehmen.
Pathophysiologisch kommt es durch die gesteigerte Aktivierung der Immunantwort zu einer vermehrten Freisetzung von ‧proinflammatorischen Zytokinen und ‧Hepcidin. Hepcidin ist ein primär in den ‧Hepatozyten gebildetes Peptidhormon, das eine entscheidende Rolle im Eisenstoffwechsel spielt, indem es sowohl die enterale Eisenresorption als auch die Eisenfreisetzung aus den Makrophagen reguliert. Erhöhte Hepcidinspiegel hemmen die Resorption und Freisetzung von Eisen durch eine Ferroportinblockade. Niedrige Hepcidinspiegel dagegen begünstigen die Resorption beziehungsweise Eisenspeicherfreisetzung [24] (Abb. 1).
Die Erhöhung proinflammatorischer Zytokine erhöht wiederum die Makrophagenaktivität und resultiert in einem verstärkten Abbau von Erythrozyten. Außerdem ist eine leicht verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten feststellbar. Daneben haben Zytokine einen Einfluss auf die Erythrozytenbildung: Die Proliferation der roten Progenitorzellen wird direkt beeinflusst und das Gleichgewicht des Eisenstoffwechsels wird durch Hepcidin gestört [25, 26]. Eine Entzündung kann sowohl Hepcidin als auch Ferritin unabhängig vom Eisenstatus erhöhen, was wiederum die Eisenverfügbarkeit verringert. Ferritin speichert Eisen in biologischer Form. Da es zu den Akutphaseproteinen zählt, kann es bei einer Entzündung trotz Eisenmangel erhöht sein und dadurch die Diagnostik erschweren [27]. Im Rahmen von Entzündungen wird somit insgesamt sowohl weniger Eisen an das Plasma abgegeben als auch enteral resorbiert und an das Transportprotein Transferrin gebunden [26]. Dadurch kann die sogenannte Transferrinsättigung (Anteil des mit Eisen beladenen Transferrins) erniedrigt sein.
Im Gegensatz zum absoluten Eisenmangel, wie er beispielsweise bei Mangelernährung und Malabsorption vorliegt, handelt es sich hierbei um einen funktionellen Eisenmangel (siehe Tabelle Eisenmangel, oben). Solange der Hb im Normbereich liegt, liegt keine Anämie vor. Man spricht hier von einem latenten Eisenmangel.

absoluter Eisenmangelfunktioneller Eisenmangel
Eisenspeicher leerEisenspeicher voll
Ferritin erniedrigtFerritin normal bis erhöht
Transferrinsättigung erniedrigtTransferrinsättigung normal bis erniedrigt
Unterschiede zwischen absolutem und funktionellem Eisenmangel

Parodontitis im Alter
Parodontitis gilt als eine chronisch entzündliche Erkrankung, deren Genese durch multiple Faktoren beeinflusst wird. Hierzu zählen unter anderem epigenetische Faktoren, Umweltfaktoren, Medikamente und das individuelle Verhalten [28].
Nach dem aktuellen Verständnis für parodontale Erkrankungen ist die Parodontitis definiert durch eine fortschreitende Destruktion des Zahnhalteapparats. Pathophysiologisch liegt ein dysbiotischer Biofilm zugrunde, der zu Knochenabbau und Verlust von klinischem Attachment‧level (CAL) führen kann [29]. Bedingt durch Fortschritte in der Zahnmedizin sind immer weniger Senioren zahnlos. Vielmehr behalten sie auch in höherem Alter die eigenen Zähne [30]. Wie in der V. Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) gezeigt, besteht eine hohe parodontale Erkrankungslast. Unter jüngeren Erwachsenen (35- bis 44-Jährige) hat sich die Zahl der parodontal Erkrankten im Vergleich zur IV. DMS nahezu halbiert. Auch unter jüngeren Senioren (65- bis 74-Jährige) ist dieser Trend zu beobachten. Ungeachtet dessen ist bei jedem Zweiten in dieser Altersgruppe eine parodontale Erkrankung nachzuweisen, bei jedem Fünften sogar eine schwere Form der Parodontitis. Bedingt durch die in der DMS V beschriebene Morbiditätskompression kommt es zu einer Verlagerung der parodontalen Erkrankungen in das höhere Lebensalter: Unter den älteren Senioren (75- bis 100-Jährige) ist bei neun von zehn Menschen eine moderate beziehungsweise schwere Form von Parodontitis feststellbar [31]. Auch bei Menschen mit Pflegebedarf stellen schwere Parodontitiden keine Seltenheit dar [32]. Bei an Demenz erkrankten Senioren sind dabei häufiger Gingivitiden und schwere Parodontalerkankungen vorzufinden als bei Patienten ohne Demenz [33].
Parodontale Pathogene beeinflussen das Entzündungsgeschehen im Körper nicht nur lokal, sondern auch systemisch: Bereits leichtgradige Bakteriämien tragen zur systemischen Entzündungs- und Immunreaktion bei [34]. Über die letzten Jahrzehnte wurde gezeigt, dass ein schlechter oraler beziehungsweise parodontaler Zustand als potenzieller Risikofaktor für verschiedene systemische Erkrankungen anzusehen ist [35]. Zudem ist das Altern an sich auch durch quantitative und qualitative Veränderungen des Immunsystems gekennzeichnet („inflammaging“). Dieses auch als Immunseneszenz bekannte Phänomen geht mit einer unvermeidbaren und fortschreitenden Verschlechterung der Immunfunktion einher [36] und kann für sich betrachtet als ein wichtiger Risikofaktor für Morbidität und Mortalität bei älteren Menschen angesehen werden [37]. Parodontitis kann eine Ursache für „inflammaging“ darstellen und sich somit auch systemisch auswirken [38, 39].
In der Wissenschaft werden wechselseitige Beziehungen zwischen Parodontitis und systemischen Allgemeinerkrankungen viel diskutiert. Oft sind allerdings kausale Zusammenhänge nicht bewiesen. Es gilt als anerkannt, dass Assoziationen sowohl zwischen PA und Diabetes mellitus als auch zwischen PA und rheumatoider Arthritis bestehen. Weitere Assoziationen wie etwa zwischen PA und Osteoporose, Stress, Depression oder Bluthochdruck sind neben vielen anderen Erkrankungen noch Bestandteil aktueller und zukünftige Forschung [40]. Auch für Erkrankungen, die hauptsächlich Senioren betreffen, wie Demenz und die Alzheimer-Erkrankung, sind mögliche Assoziationen und Kausalitäten mit der Parodontitis noch zu untersuchen [41].

Zusammenhänge zwischen Parodontitis und AI
Bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann man den Zusammenhang zwischen Parodontitis und Anämie zu untersuchen. Lainson et al. [42] war einer der ersten Autoren, der eine Assoziation zwischen Anämie und Parodontitis beobachtete. Auch in weiteren Studien konnte diese festgestellt werden: Jüngste Erkenntnisse zeigten, dass Parodontitis das Risiko für eine Entzündungsanämie erhöhen kann.
Die Auswirkung der Parodontitis als chronisch entzündliche Erkrankung auf den Gesamtorganismus zeigt sich unter anderem in einer vermehrten Freisetzung von Akutphaseproteinen aus den Zellen der Wirtsabwehr als Reaktion auf die parodontale Infektion. Die vermehrte Freisetzung proinflammatorischer Zytokine stört die Bildung und Entwicklung der Erythrozyten [23, 25]. In Studien, welche die Korrelation von AI und Parodontitis untersuchen, lässt sich bei Parodontitispatienten eine erhöhte BSG (Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit) und eine reduzierte Erythrozytenzahl sowie ein verringerter Hämoglobinwert und Hämatokrit feststellen. Für die verminderte Erythrozytenzahl und den verringerten Hämoglobinwert bei Studienteilnehmern mit diagnostizierter Parodontitis ist kein (absoluter) Eisen-, ‧Vitamin-B12- oder Folsäuremangel ursächlich [21, 43–50].
Die AI ist gekennzeichnet durch eine Fehlregulation des Eisenhaushalts (funktioneller Eisenmangel), die in einer Hypoferrinämie mit erhöhtem Serumferritin und verminderter Transferrinsättigung resultiert. Eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung dieser Effekte spielt dabei das Akutphaseprotein Hepcidin, das bei entzündlichen Vorgängen vermehrt gebildet wird [23]. Auch bei Parodontitispatienten konnten sowohl im Serum als auch in der Sulkusflüssigkeit erhöhte Hepcidinwerte festgestellt werden [50–53]. Daneben konnten bei Patienten mit diagnostizierter Parodontitis erhöhte Ferritinwerte und eine verminderte Transferrinsättigung beobachtet werden [52, 54, 55].
Wie Cartwright 1966 bereits postulierte, sind drei entscheidende Pathomechanismen an der Entstehung einer AI beteiligt: reduzierte Überlebenszeit der Erythrozyten, verminderte Erythrozytenbildung und Hypoferrinämie [56]. Vermittelt werden diese Effekte durch die Wirkung proinflammatorischer Zytokine, die wiederum auch die Produktion von Hepcidin stimulieren [26].
All diese Phänomene sind auch im Zusammenhang mit Parodontitis beobachtbar und implizieren, dass Parodontitis das Risiko für die Entzündungsanämie erhöht. Im Vergleich zu anderen entzündlichen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder neoplastischen Erkrankungen sind die Auswirkungen der Parodontitis auf die AI nicht so auffällig und resultieren tendenziell in einer milderen Form der AI [44].

Parodontaltherapie verbessert Blutparameter
Durch eine nichtchirurgische Parodontal‧therapie nach dem Prinzip des „scaling and root planing“ (SRP) in Verbindung mit Mundhygieneinstruktionen können sich Hämoglobinwert, Erythrozytenzahl und Hämatokrit sowie eine klinisch diagnostizierte Parodontalerkrankung verbessern. Auch konnte gezeigt werden, dass sich die Ferritin-, Transferrin- und Hepcidinwerte bei parodontaler nichtchirurgischer Therapie bessern. Außerdem reduzieren sich die IL-6 Werte durch SRP, was wiederum auf eine Abnahme der entzündlichen Aktivität hinweist. Dadurch können die positiven Auswirkungen der Parodontaltherapie auf die systemische Gesundheit verstärkt werden [47, 51, 55, 57–59]. Möglicherweise (bisher nicht wissenschaftlich belegt) könnte somit durch gesunde parodontale Verhältnisse ein positiver Beitrag auch für die Vermeidung einer AI entstehen.

Orale Manifestationen von Anämien
Bei allen ausgeprägten Anämien kann in der zahnmedizinischen Untersuchung eine Blässe der Mundschleimhaut beobachtet werden (Abb. 2 und 3).
Daneben gibt es unspezifische Symptome, die auf Unterformen von Anämien hinweisen können (siehe Tabelle Anämieformen, Seite 20). Diese sollen im folgenden Abschnitt genauer erläutert werden.
In einer Studie von Wu et al. [22] zeigten sich bei Patienten mit diagnostizierter Eisenmangelänamie im Vergleich zu gesunden Probanden folgende Symptome an der oralen Schleimhaut: Brennen der Mundschleimhaut, Varizen der Zunge, trockener Mund, atrophische Glossitis und oraler Lichen planus [60]. Daneben können chronische Mundwinkelrhagaden auftreten. Wenn auch extraoral, fällt in der zahnmedizinischen Praxis möglicherweise auch die Koilonychie (sogenannte Hohl- beziehungsweise Löffelnägel mit muldenförmiger Einsenkung und erhöhter Brüchigkeit der Nagelplatte) als unspezifisches Symptom auf [61].
Bei megaloblastären Anämien, die im Zusammenhang mit Vitamin-B12- und/ oder Folsäuremangel auftreten, können trophische Schleimhautveränderungen mit aphthösen Läsionen sowie atrophische Glossitits mit glatter roter Zunge und Glossodynie (Zungenbrennen) beobachtet und erfragt werden [62, 63].
Patienten mit diagnostizierter Sichelzellanämie, einer genetisch bedingten Form der korpuskulären hämolytischen Anämie, können aseptische Pulpanekrosen, Schleimhautläsionen, Verzögerungen im Zahndurchbruch, orale Neuropathien, Knochenschmerzen sowie Osteomyelitiden der Mandibula aufzeigen [64–67]. Bei oralen Neuropathien mit einer labialen Hypästhesie kann beispielsweise eine Asymmetrie beim Lächeln beobachtet werden [68].
Die Thalassämie, auch bekannt unter Mittelmeeranämie, ist eine autosomal‧rezessive Blutkrankheit, die durch Bildung einer abnormen Form von Hämoglobin zu einer quantitativen Hb-Störung führt. Je nach betroffenen Genen werden Alpha- und Beta-Thalassämien unterschieden. Diese können wiederum in asymptomatischen, schweren und letalen Formen vorliegen [69]. Vor allem in Verbindung mit schweren Formen dieser Anämie konnten Knochendeformierungen beobachtet werden. Orofazial beispielsweise als sogenannte „Facies thalassaemica“ mit Vergrößerung des Oberkiefers, hohen, prominenten Wangenknochen und hoher Stirn, Vorsprung der Frontzähnen mit Über- oder offenem Biss und Malokklusion [70]. Daneben können auch bei dieser Form von Anämie Mundschleimhautbrennen, atrophische Glossitits und ein Taubheitsgefühl der oralen Mukosa auftreten [71].
Fallen dem behandelnden Zahnarzt Merkmale auf, die auf eine Form von Anämie hinweisen, ist es sinnvoll, den Patienten zu seinem Hausarzt zu schicken. Besonders unter Berücksichtigung möglicher allgemeiner Symptome einer Anämie wie Müdigkeit, Kopfschmerz und Kurzatmigkeit, die besonders bei älteren Patienten auch mit einer erhöhten Sturzneigung einhergehen [10], zeigt sich Handlungsnotwendigkeit. Auch kann es je nach Patientenstamm einer Praxis sinnvoll sein, den Anamnesebogen um den Risikofaktor „Anämie“ zu erweitern. So können eventuell auftretende orale Symptome gezielter eingeordnet werden. Auf der anderen Seite sollten auch besonders Hausärzte und Geriater an die Parodontitis als möglichen Risikofaktor für die Entstehung einer Entzündungsanämie denken und Patienten zur diagnostischen Abklärung an den Hauszahnarzt überweisen.

Ausblick
Von einer Assoziation zwischen Parodontitis und Anämie kann anhand der aktuellen Studienlage ausgegangen werden. Die bisher durchgeführten Studien und Vergleiche schlossen allerdings nach unseren Erkenntnissen hauptsächlich Erwachsene im Alter von unter 65 Jahren ein. Da auf der einen Seite Anämie im Alter und vor allem die Entzündungsanämie (AI) häufig vorkommt und auf der anderen Seite viele Senioren im Alter über 65 Jahren an Parodontitis leiden, lässt sich vermuten, dass hier eine mindestens ebenso hohe, möglicherweise aber klinisch relevantere Assoziation besteht.
Es ist eine engere Kooperation zwischen der geriatrischen Versorgung und den Hauszahnärzten erforderlich, um die Parodontitis als mögliche Ursache für die Anämie zu diagnostizieren. Da jede Form von Anämie grundsätzlich als unphysiologisch anzusehen ist, sollte eine Fokussanierung erfolgen. Zudem ist die Diagnostik und Therapie aller entzündlich auslösenden Faktoren erforderlich, da dies sowohl den Beginn als auch das Fortschreiten häufiger chronischer Krankheiten sowie deren Komplikationen beeinflussen kann.
Es zeigt sich, dass weitere wissenschaftliche Untersuchungen, die vor allem ‧Studienteilnehmer über 65 Jahren einschließen, erforderlich sind, um mögliche Zusammenhänge zwischen Entzündungs‧anämie und Parodontitis in dieser Altersgruppe zu beschreiben und darauf aufbauend konkrete Behandlungsbesonderheiten für die Zahnmedizin zu definieren.

Nachgefragt:
Wie ist die Auswirkung der Anämie auf die Wundheilung bei älteren Patienten einzuschätzen?
Alicia Maria Blasi: Der reduzierte Sauerstoffgehalt des Blutes bei Anämiepatienten muss als systemischer Störfaktor auch bei der Wundheilung in der Mundhöhle berücksichtigt werden. Malnutri‧tion, Diabetes mellitus, Antikoagulantieneinnahme und die altersbedingte reduzierte Fähigkeit des Organismus zur Regeneration stellen zusätzliche entscheidende altersassoziierte Risikofaktoren der Wundheilung dar. Deshalb sollte gerade bei multimorbiden älteren Patienten die potenzielle Summation dieser die Wundheilung negativ beeinflussenden Faktoren in die Therapieplanung einbezogen werden.

Anämieformorale Befundeextraorale Befunde
EisenmangelanämieMundschleimhautbrennen, Zungenvarizen, Mundtrockenheit, atrophische Glossitis, Lichen planus mucosaeMundwinkelrhagaden, Koilonychie
Anämie durch ‧Vitamin B12-/Folsäuremangelaphtöse Läsionen, atrophische Glossitis, Glossodynie
Sichelzellanämieaseptische Pulpanekrosen, Schleimhautläsionen, Verzögerungen im Zahndurchbruch, orale Neuropathien, Knochenschmerzen, Osteomyelitiden der MandibulaAsymmetrie beim Lächeln durch labiale Hypästhesie
ThalassämieMundschleimhautbrennen, atrophische Glossitis,
Taubheitsgefühl der oralen
Mukosa
Facies thalassaemica
Mögliche orale und extraorale Befunde von Anämien

Service:
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Alicia Maria Blasi ist Zahnärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der ‧Universitätsklinik zu Köln, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Fachbereich Parodontologie. Dort verfasst sie ihre Promotion im Rahmen der PARAN-Studie zum Thema „Der Einfluss von chronischer Parodontitis auf die chronische Entzündungsanämie bei geriatrischen Patienten“. Zudem ist sie ‧beteiligt an der AG Seniorenzahnmedizin unter der Leitung von PD Dr. Dr. Greta Barbe.

Kontakt
Alicia Maria Blasi
Uniklinik Köln
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie
alicia.blasi@uk-koeln.de

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