Interview

Themen & Materialien

21.10.24

Mundgesundheit in der Pflege: eine Standortbestimmung

Zahnmedizinische Betreuung von Patienten mit pflegerischem Unterstützungsbedarf

Mundgesundheit, Pflege, Standortbestimmung

Natascha Brand

Im vergangenen Jahr wurde der Expertenstandard „Förderung der Mundgesundheit in der ­Pflege“ veröffentlicht. Damit sind erstmals interprofessionell abgestimmte Handlungsempfehlungen für die Mundgesundheit von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf verfügbar. Parallel wurde eine Internetplattform entwickelt, die diese Handlungsempfehlungen mit vielen Bildern und Videos veranschaulicht: mund-pflege.net. Diese Plattform ging bereits 2022 online und wir haben in teamwork Ausgabe 5/22 darüber berichtet. Welche Impulse konnten der ­Expertenstandard und mund-pflege.net in der Zwischenzeit leisten? Wo stehen wir heute und was hat es mit dem Workshop „Pflege & Zahnmedizin im Dialog“ auf sich?

Dazu befragen wir Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Annett Horn, Zahnarzt Dr. Elmar Ludwig und Dentalhygienikerin Sylvia Fresmann. Prof. Horn und Dr. Ludwig haben bei der Erstellung des Expertenstandards mitgewirkt und in der Folge zusammen den interprofessionellen Workshop „Pflege und Zahnmedizin im Dialog“ ins Leben gerufen. Dr. Ludwig ist als Mitinitiator die treibende Kraft von mund-pflege.net und wird dabei von Prof. Horn und Sylvia Fresmann nach Kräften unterstützt. Sylvia Fresmann verdeutlicht darüber hinaus als Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Dentalhygieniker/Innen e. V. (DGDH) die Bedeutung der Qualifizierung des zahnärztlichen Praxisteams; die DGDH koordiniert dazu u. a. das Workshop-Format „Pflege und Zahnmedizin im Dialog“.

Wo stand die Mundgesundheit in der Pflege vor dem Expertenstandard und was hat der Standard Ihrer Meinung nach bewirkt?
Prof. Dr. Annett Horn:
Die Förderung der Mundgesundheit gehört in der pflegerischen Versorgung – egal, wo diese stattfindet – zur Körperpflege. Das wird so auch in der Ausbildung vermittelt. In der Praxis sieht es aber leider häufig ganz anders aus und Pflegefachkräfte sagen mir ganz oft: „Bei uns ist die Mundpflege ein absolutes Stiefkind!“ Damit wollen sie ausdrücken, dass die Körperpflege zwar stattfindet, aber die Durchführung der Mundpflege oftmals nicht integriert wird, vergessen wird oder an die nächste Schicht weitergegeben wird. Als Gründe werden dann Unsicherheit beim Umgang mit dem Zahnersatz oder beim Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen und oft auch Zeitmangel genannt. Der Expertenstandard war deswegen sehr wichtig, denn er räumt hoffentlich mit dem Mythos auf, dass es nicht schlimm ist, wenn die Mundpflege mal für einen Tag weggelassen wird. Ich erlebe diesen Aha-Moment bei den Teilnehmern unserer Veranstaltungen immer wieder.

Welche Erwartungen und Hoffnungen verbinden Sie mit dem Standard?
Prof. Horn:
Ich hoffe, dass die Inhalte des Standards zukünftig überall dort, wo Pflege stattfindet, selbstverständlich umgesetzt werden. Und ich erwarte, dass sie in jeder Pflegeschule vermittelt werden, sodass zukünftige Pflegefachkräfte verinnerlichen, wie essenziell Mundgesundheit für das Wohlbefinden ihrer Patienten, Tagesgäste und Heimbewohner ist. Das ist auch wichtig für die Pflegekräfte, die in der ambulanten oder teilstationären Pflege tätig sind, denn sie sind auf die Unterstützung von Angehörigen angewiesen, denen sie aber nur dann vermitteln können, wie wichtig die Mundpflege ist, wenn sie selbst davon überzeugt sind.

Seit Herbst 2021 ist die neue Approbationsordnung für die Zahnmedizin gültig. Werden Studierende der Zahnmedizin mit dieser Approbationsordnung gut auf die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf vorbereitet?
Dr. Elmar Ludwig:
Diese Frage würde ich mit einem klaren Jein beantworten. Ich selbst war acht Jahre lang als Assistenzzahnarzt an einer Universität in der prothetischen Abteilung tätig. Nur wenige Universitäten hatten das Thema vor der neuen Approbationsordnung überhaupt auf dem Schirm.

Natürlich können an Universitäten Vorlesungen gehalten werden zum Betreuungsrecht, zur Polypharmazie, zu den Zusammenhängen zwischen Mundgesundheit und allgemeiner Gesundheit oder zu präventionsorientierten, konservierenden bzw. prothetischen Überlegungen in Bezug auf Versorgungskonzepte bei hochaltrigen Menschen. Der geriatrische Patient selbst jedoch kommt bis heute am ehesten als zahnärztlicher Schmerzpatient in Kliniken der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vor. Und dann geht es in der Regel darum, kariös zerstörte Restzähne und Wurzelreste zu entfernen. Erfahrung in der langjährigen und kontrollorientierten zahnärztlichen Betreuung und Behandlung geriatrischer Patienten zur Förderung der Mundgesundheit hat meines Wissens keine einzige Universität in Deutschland. Bei Tätigkeiten außerhalb der Universität müssten zunächst viele Fragen geklärt werden zum Versorgungsauftrag, zum Arbeitsrecht, zum Versicherungsschutz und nicht zuletzt, wie das zahnärztliche Behandlungsteam überhaupt zu den Patienten in die Häuslichkeit kommt. Diese Dinge ändern sich auch durch die neue Approbationsordnung nicht zwangsläufig.

Andererseits sieht die neue Approbationsordnung die Ableistung eines Pflegedienstes in einem Krankenhaus oder einer Rehabilitationseinrichtung, einer Famulatur bei niedergelassenen Zahnärzten sowie Wahlfächer in anderen ärztlichen Disziplinen vor. Hier bestünde bei entsprechender Auswahl die Gelegenheit, auch geriatrische Patienten zu sehen. Die Universität Freiburg bietet als Besonderheit im ersten Studienabschnitt eine mehrstündige Hospitation bei niedergelassenen Kollegen an, die über einen Ko­operationsvertrag mit einer stationären ­Pflegeeinrichtung verbunden sind. Die Hos­pitation erstreckt sich dabei auf die Kontrolluntersuchungen, die im Rahmen des Kooperationsvertragsgeschehens durchgeführt werden.

Unter dem Strich: Ein Anfang ist mit der neuen Approbationsordnung gemacht, aber es wird – wie früher auch – sehr von den jeweiligen Akteuren vor Ort abhängen, ob und wie viel Wissen und Kompetenzen Studierenden der Zahnmedizin über die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf mit auf den Weg gegeben werden. Das Studium ist mit fünf Jahren kurz und dicht gepackt. Die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf ist eine Königsdisziplin, die die kombinierte Anwendung verschiedener Kompetenzen erfordert. Das Studium könnte und sollte aber mehr Impulse in diese Richtung geben.

Die Pflege ist ja in vielen verschiedenen Versorgungsbereichen, sogenannten Settings, aktiv. Welche Herausforderungen gilt es bei der Implementierung des Expertenstandards in den verschiedenen Settings zu meistern?
Prof. Horn:
Die Herausforderungen sind tatsächlich von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Settings abhängig, deswegen gehe ich gerne näher auf die einzelnen Bereiche ein. In der ambulanten Langzeitversorgung besteht die Herausforderung darin, dass die Pflegekräfte nur wenig Zeit haben und dann oftmals nur einmal am Tag Zeit mit den betroffenen Menschen verbringen. Den Rest des Tages müssen dann Angehörige auf die Mundgesundheit achten. Umso wichtiger ist es daher, dass eine professionelle Mundpflege durch Pflegefachkräfte durchgeführt wird, sie die Angehörigen beraten und ggf. schulen und, dass Pflegefachkräfte auch darüber Bescheid wissen, welche Möglichkeiten der zahnärztlichen Versorgung bestehen. Das trifft so ähnlich auch auf die teilstationäre Langzeitversorgung wie z. B. die Tagespflege zu.

In der stationären Langzeitversorgung, also in den Pflegeeinrichtungen, fehlen oft Materialien, um die Mundpflege durchzuführen. Dabei mangelt es an Zahnbürsten, aber auch an Kompressen oder Taschenlampen und letztlich auch an Material zur Schulung von Kollegen oder Angehörigen, denn auch hier ist es wichtig, dass diese mit einbezogen werden. Zudem besteht für viele Einrichtungen die Herausforderung darin, einen Kooperationsvertrag mit einer Zahnarztpraxis abzuschließen. Da höre ich immer wieder: ‚Wir wollen ja einen Vertrag abschließen, aber wir finden keinen Zahnarzt, der sich darauf einlässt.‘ Im Krankenhaus haben wir die Herausforderung, dass viele Patienten nur wenige Tage stationär behandelt werden, sodass sich die Arbeit der Pflegefachkräfte auf Wund-/OP-Versorgung oder Medikamentenmanagement konzentriert und sie die Patienten oft gar nicht richtig kennenlernen. Bevor sie das Vertrauen aufgebaut haben, das sie benötigen, um sich mit ihnen über ein so sensibles Thema wie Mundpflege zu unterhalten, sind diese schon wieder entlassen.

Wie die Evaluation der modellhaften Implementierung des Standards durch das DNQP (2023) gezeigt hat, ist es allen Settings gemeinsam, dass sich Pflegefachkräfte mehr Kompetenzen zur Durchführung der Mundpflege wünschen, sich im Umgang mit dem neuen, technisch aufwendigen Zahnersatz unsicher fühlen und Einrichtungsleitungen oftmals zu wenig Unterstützung, z. B. in Form von Fortbildung, anbieten.

Wie hat sich die zahnärztliche Betreuung in den letzten Jahren entwickelt, wenn es um pflegebedürftige Menschen geht?
Dr. Ludwig:
Nach der Einführung der verschiedenen neuen Leistungen für gesetzlich versicherte Menschen mit Unterstützungsbedarf seit dem Jahr 2013 sind heute zwischen 50 bis 60 Prozent der stationären Pflegeeinrichtungen über Kooperationsverträge mit Zahnarztpraxen verbunden. Das ist nicht schlecht, jedoch sind wir noch lange nicht am Ziel, zumal diese Verträge sehr unterschiedlich gelebt werden. Und die im Juli 2018 eingeführten anwendbaren, präventionsorientierten Leistungen Mundgesundheitsstatus, individueller Plan und Mundgesundheitsaufklärung sowie zweimal jährliche Zahnsteinentfernung werden bis heute lediglich zehn Prozent der Anspruchsberechtigten zuteil. Die im Juli 2021 eingeführten parodontalen Versorgungsstrecken für Menschen mit zugeordnetem Pflegegrad werden nur bei einem verschwindend geringen Anteil der Anspruchsberechtigten erbracht. Das liegt sicherlich auch daran, dass Krankenkassen ihre Versicherten nicht gut über die Versorgungsangebote informieren, und die pflegebedürftigen Menschen selbst oder ihr Unterstützungsumfeld die Leistungsansprüche ebenfalls häufig aus Unkenntnis oder aufgrund vieler anderer Probleme nicht prioritär einfordern.

Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung hat zusammen mit dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen wichtige Weichen gestellt, um die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf im zahnärztlichen Praxisalltag zu entwickeln. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sehe ich auf Seiten der Bundeszahnärztekammer sowie der zahnärztlichen Körperschaften auf Landesebene und übrigens auch bei den zahnärztlichen Fachgesellschaften aber noch viel Potenzial, um die zahnärztliche Profession und die Zahnarztpraxen vor Ort auf diesem Weg zu begleiten. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die gesonderten Leistungen für pflegebedürftige Menschen und übrigens auch für Menschen mit Behinderung, wenn diese Eingliederungshilfe erhalten, budgetfrei sind!
Es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Die geriatrische Zahnmedizin wird in unserer Gesellschaft schon in wenigen Jahre eine wichtige Säule jeder allgemeinzahnärztlich tätigen Praxis sein. Wir alle sind gut beraten, die Zeit zu nutzen, um uns vorzubereiten.

Welche Aufgaben sehen Sie für die Mitarbeitenden in der zahnärztlichen Praxis bei der Betreuung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf?
Sylvia Fresmann:
Das Praxisteam kann bei allen organisatorischen Prozessen sehr gut unterstützen, z. B. bei der Einholung von Befunden, Medikationsplänen oder Kontaktdaten des Unterstützungs- bzw. Betreuungsumfeldes. Auch bei der Terminplanung oder bei der Vorbereitung von Transportscheinen sowie der Zusammenstellung der notwendigen Materialien für Hausbesuche gibt es jede Menge zu beachten. In der Praxis können wir darüber hinaus mit den entsprechenden Zusatzqualifikationen bei der Erstellung des Mundgesundheitsstatus, dem individuellen Mundgesundheitsplan unterstützen sowie die Mundgesundheitsaufklärung, die Zahnsteinentfernung und sogar die Parodontitisbehandlung im Rahmen der Delegation selbst durchführen.

Wo liegen die Grenzen?
Fresmann:
Die Delegation erlaubt es uns als Mitarbeiterinnen, zahnärztliche Tätigkeiten in der Verantwortung und unter Aufsicht des Zahnarztes bzw. der Zahnärztin durchzuführen. Gerade Dentalhygienikerinnen haben hier aufgrund ihrer intensiven Qualifizierung großes Potenzial, vor allem im Hinblick auf geriatrische Patienten. Trotzdem sollte immer die unmittelbare Eingriffsmöglichkeit durch den Zahnarzt bzw. die Zahnärztin gewährleistet sein – gerade geriatrische Patienten können mitunter unerwartet reagieren und es können kritische Situationen entstehen. Die Arbeit allein, z. B. in einer Pflegeeinrichtung, ohne Zahnarzt vor Ort, verbietet sich demnach. Dann heißt es oft: „Ja, aber Pflegepersonen, die meist weniger gut in den Fragen der Mundhygiene qualifiziert sind, machen es doch auch. Wieso sollen wir das nicht dürfen?“ Dazu muss angemerkt werden, dass die Pflegepersonen die betroffenen Menschen über Wochen und Monate im Pflegealltag erleben und die „Tagesform“ besser einschätzen können. Vor allem aber handeln die Pflegepersonen in der Verantwortung der Pflegeeinrichtung und haftungsrechtlich ist das relevant.

Nun verfügen nur die wenigsten Praxen über eine qualifizierte Dentalhygienikerin. Könnte auch ein ZFA bzw. ZMP die Betreuung geriatrischer Patienten in der Delegation übernehmen?
Fresmann:
Gerade vulnerable Gruppen wie geriatrische Patienten erfordern eine Vielzahl verschiedener Kompetenzen. Dazu zählen fachliches Wissen auch über Allgemeinerkrankungen und vor allem langjährige Erfahrung am Behandlungsstuhl. Dentalhygienikerinnen sind zudem in besonderer Weise darin geschult, mit großem Verantwortungsbewusstsein verschiedene Situationen so oft und gut es geht ohne zahnärztlichen Beistand zu meistern. Um auf Ihre Frage zurück zu kommen. Es ist immer eine Risikoabwägung. Man könnte auch sagen: mit abnehmender Qualifikation wird das Eis immer dünner.

Welche Unterstützung wünschen Sie sich durch das zahnärztliche Praxisteam im Hinblick auf die Förderung der Mundgesundheit?
Prof. Horn:
Ich wünsche mir, dass sich zahnärztliche Praxisteams auf das Thema „Altern und Pflegebedürftigkeit“ einstellen. Denn unsere Gesellschaft altert zunehmend und zukünftig wird es sehr viel mehr Menschen geben, die sich, als sie noch körperlich und geistig fit waren, teuren, aufwendigen Zahnersatz geleistet haben, aber mit zunehmendem Fähigkeitsverlust diesen nicht mehr alleine handhaben und pflegen können. Da die meisten pflegebedürftigen Menschen zu Hause leben – das sind immerhin fast vier Millionen – und von ihnen wiederum die Mehrheit nur von ihren Familienangehörigen versorgt werden, kann die professionelle Pflege nur wenig ausrichten und ist auf Kooperation angewiesen.

Welche weiteren Aufgaben können Dentalhygienikerinnen bzw. fortgebildete Mitarbeitende übernehmen?
Fresmann:
In Berufsschulen und auch in Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern können die Dentalhygienikerinnen Pflegekräfte in spezifischen zahnmedizinischen Fragestellungen schulen. Wichtig ist auch hier: Ohne den direkten Kontakt zu pflegebedürftigen Menschen. Dazu aber ist ein Verständnis für die Profession der Pflege und die besonderen Herausforderungen der Mundhygiene in den verschiedenen Settings der Pflege wichtig.

Was könnte dazu beitragen, dass sich mehr Praxen bzw. Praxisteams in der Betreuung Pflegebedürftiger einbringen?
Dr. Ludwig:
Neben den eingangs beschriebenen notwendigen Impulsen an den Universitäten und im Studium müssen wir die Kolleginnen und Kollegen vor Ort stärker für das Thema motivieren und gewinnen. Immer wieder höre ich den Satz: „Elmar, ich habe so viel zu tun, ich weiß gar nicht, wie ich es unterbringen soll!“ Mir ist auch nicht langweilig, aber ich sehe den Bedarf und kann heute sagen, dass sich mit etwas gutem Willen und einem Konzept schon einiges erreichen lässt. In meiner Wahrnehmung sind viele Zahnärzte in erster Linie schlicht verunsichert, weil sie keine genaue Vorstellung haben, wie eine gute zahnärztliche Betreuung pflegebedürftiger Menschen aussehen kann. Woher auch, denn im Studium – zum Teil vor vielen Jahren – haben die wenigsten dazu etwas gehört. Bis heute gibt es in Deutschland keinen einzigen Lehrstuhl für geriatrische Zahnmedizin. Das muss sich ändern! Zudem wäre es wichtig, über Informationskampagnen und auf Zahnärztetagen erfolgreiche zahnärztliche Praxiskonzepte zur zahnärztlichen Betreuung pflegebedürftiger Menschen umfassender darzustellen. Das allein reicht jedoch auch noch nicht. Wie bereits erwähnt, müssten gleichzeitig auch Kammern und KZVen diese Themen sehr viel aktiver begleiten und strukturieren. Neben ganz wenigen anderen haben vor allem die Landeszahnärztekammer und Kassenzahnärztliche Vereinigung Baden-Württemberg mit großem Engagement in den vergangenen 20 Jahren belastbare Strukturen entwickelt, die als Vorbild dienen könnten.

Einer der großen Vorteile in der Alterszahnmedizin ist, dass man Stück für Stück und mit sehr überschaubaren Investitionen in das Thema einsteigen kann. Die Alterszahnmedizin birgt auch viele neue Möglichkeiten. Stichwort Praxiserweiterung: Durch Hausbesuche kann man das Praxiskonzept erweitern, ohne in größere Praxisräumlichkeiten umziehen zu müssen. Und für ein paar Treppenstufen gibt es vielfältige sehr kostengünstige Lösungen.

Die Plattform mund-pflege.net ist seit Juli 2022 online. Welche neuen Features wurden in der Zwischenzeit entwickelt?
Dr. Ludwig:
Dazu sollte zunächst nochmals kurz vorausgeschickt werden, dass alle unsere Bemühungen nichts bringen, wenn es uns nicht gelingt, die Pflege mit ins Boot zu holen. Erst die tägliche Mundhygiene bzw. Mundpflege schafft die Nachhaltigkeit unseres zahnärztlichen Handelns. Umso mehr freuen wir uns darüber, dass das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege den Expertenstandard zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege veröffentlicht hat. Dieser Expertenstandard wurde als erster seiner Art interprofessionell von Experten aus der Pflege und der Zahnmedizin erarbeitet. Durch einen glücklichen Zufall wurde nahezu zeitgleich die Internetplattform mund-pflege.net entwickelt. Diese bietet zu den Handlungsempfehlungen des Expertenstandards viele anschauliche Bilder und Videos und schlägt damit auf einzigartige Weise die Brücke zur Pflegepraxis.

Jetzt zu Ihrer Frage: In den letzten zwei Jahren haben wir eine Vielzahl an Grafiken zu den Themen Beläge, Karies oder zahnärztliche Versorgungen ergänzt. Wir haben auf eigenen Seiten die häufigsten Auffälligkeiten zusammengefasst sowie den sehr pflegerelevanten Themenbereich Unfall/Sturz/Verletzung ergänzt.

Im Kapitel der unterstützten Mundpflege werden gerade die Texte, Bildstrecken und animierten Videos miteinander fusioniert, um alle Darstellungen gleichzeitig im Überblick zu haben. Zudem wurden interaktive 3D-Szenen angelegt, die auf dem Smartphone sogar im AR-Modus betrachtet werden können. Eine Projekthistorie, die wir im Footer – also am Seitenende – eingefügt haben, ermöglicht es, sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt über Neuigkeiten, die seit dem letzten Besuch auf der Plattform hinzugekommen sind, zu informieren.

Für Referenten haben wir individuelle Nutzerprofile eingeführt mit der Möglichkeit, Merklisten, z. B. häufig genutzte Seiten, oder auch bei Vorträgen bestimmte Inhalte, direkt anwählen zu können. Strukturierte Bildbeispiele haben sich für die Besprechung von Lernsituationen bzw. Handlungsanlässen zu einem sehr beliebten Feature in Fortbildungen entwickelt. Zusätzliche Funktionen bei den interaktiven 3D-Szenen sowie Teilnahmebescheinigungen runden das Angebot für Referenten ab. Besonders freut uns, dass eine steigende Zahl an Zahnarztpraxen die Plattform auch im Praxisalltag zur Beratung in der Prophylaxe oder für Zahnersatz heranzieht.

Was dürfen wir für die Zukunft auf mund-pflege.net erwarten?
Dr. Ludwig:
Die Förderung von mund-­pflege.net durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung läuft dieses Jahr aus und ab dem nächsten Jahr wird mund-pflege.net durch einen Verein fortgeführt. Die Nutzung der Grundfunktionen wird auch dauerhaft kostenfrei sein.

Für Menschen, die aktiv Fortbildung mit der Plattform betreiben oder für Organisationen wie Pflegeeinrichtungen, Pflegeträger oder Bildungseinrichtungen werden wir kostenpflichtige Lizenzen einführen, um die aufwendige und kostenintensive Weiterentwicklung der Plattform zu gewährleisten. Für diese Zielgruppen werden wir aber auch viele neue und interessante Funktionen zur Verfügung stellen. So werden Funktionen der augmented und virtual reality weiterentwickelt. Zudem wollen wir spezielle Lerntools mit Quizfunktionen für den Einsatz, z. B. in Schulklassen, zur Verfügung stellen. Diese Lerntools sollen es auch erlauben, an die individuelle „Spielstärke“ angepasste Aufgaben anzubieten und am Ende den Lernerfolg der Gruppe zu evaluieren.

Für Referenten ist als Weiterentwicklung der Merklistenfunktion ein Präsentationstool geplant, mit dem eigene zielgruppenspezifische Präsentationen aus den In­halten von mund-pflege.net online zusammengestellt, im eigenen Nutzerprofil abgespeichert, zu jedem beliebigen Zeitpunkt abgerufen und bei Bedarf auch offline gezeigt werden können. Für Pflegeeinrichtungen arbeiten wir zudem gerade an einem Screening- und Assess­menttool, das kriteriengeleitet, auch mit Bildbeispielen unterstützt, eine Einschätzung zur Mundgesundheit sowie ­automatisch individuell angepasste Vorschläge für Pflegemaßnahmen ermöglicht. Perspektivisch ist ein direkter Datenaustausch mit bestehenden Pflegedatenmanagement-Systemen angedacht.

Darüber hinaus planen wir auch eine Auskopplung der Plattform in leichter Sprache sowie in verschiedenen Fremdsprachen. Hier sollen die wichtigsten Inhalte für Menschen zugänglich gemacht werden, die die bisherige Inhaltstiefe und Dichte ggf. überfordert.

Aktuell entwickeln wir übrigens gerade Lernposter, um in der „realen Welt“ die Bedeutung der Mundgesundheit hervorzuheben und auf viele relevante Fragen anschauliche und einprägsame Antworten zu geben. Die Lernposter sollen zudem motivieren, auf die Plattform im Internet zu gehen und das eigene Wissen zu vertiefen. Es lohnt sich also, mund-­pflege.net im Blick zu behalten. Am einfachsten kann dies gelingen, wenn man sich für den Newsletter, der zweimal im Jahr erscheint, registriert.

Und worum geht es in dem Workshop „Pflege & Zahnmedizin im Dialog“?
Prof. Horn:
In diesem Workshop geht es darum, Bewusstsein zu schaffen für die Kooperation zwischen den Professionen Zahnmedizin und Pflege. Das beginnt schon damit, die beiden Berufsbilder einander vorzustellen und um Verständnis zu werben, gemeinsam wird dann an Themen und Techniken zur Durchführung der Mundpflege gearbeitet. Dabei ist der Expertenstandard unser Leitfaden, an dem wir uns orientieren. Erfolgreich sind wir, wenn Teilnehmende nach dem Workshop sagen, dass sie sich zukünftig noch mehr mit dem Thema auseinandersetzen möchten.

Welche Rolle spielt für Sie als Dentalhygienikerin der Workshop „Pflege & Zahnmedizin im Dialog“?
Fresmann:
Der Workshop schlägt ideal die Brücke zwischen den Professionen, ermöglicht einen Gedankenaustausch auf Augenhöhe und sorgt für einen Perspektivwechsel. Wir als Dentalhygienikerinnen lernen etwas über das Berufsbild der Pflege und können besser verstehen, wer welche Aufgaben in der Pflege übernimmt. Wir lernen etwas über Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz. Wir lernen, wie Mundpflege bei Unterstützungsbedarf durch Dritte im Sitzen am Waschbecken oder auch im Liegen am Bett erfolgreich durchgeführt werden kann und wie man betroffene Menschen in die Lage versetzen kann, möglichst viele Maßnahmen selbst auszuführen. Wir lernen Strategien, wie Mundpflege auch im Fall von Abwehr gelingen kann. Wir lernen unseren Blick für Mundhygienedefizite zu schärfen und wie mit einfachen Mitteln – richtig angewandt – schon in kurzer Zeit die Mundgesundheit sehr gut gefördert werden kann. Wir lernen, auch bei desolatem Zahnstatus die wichtigen Aspekte zu fokussieren.

Wir als DGDH haben die Koordinierung für dieses Workshop-Format übernommen, da wir als bundesweit aktiver Berufs­verband die Ideen von Prof. Horn und Dr. Ludwig sehr gut verbreiten können und eine der Zielgruppen sehr direkt ansprechen können. Auf unserer Homepage haben wir darüber hinaus einen Zugang geschaffen, um die Workshop-Teilnehmer aus beiden Professionen direkt kontaktieren zu können. Die Idee ist, mit diesem Workshop-Format Multiplikatoren zu bilden, die die Handlungsempfehlungen des Expertenstandards mithilfe der Internet-Plattform mund-pflege.net verbreiten. Und nebenbei entstehen Bekanntschaften und Freundschaften, die über den Workshop hinaus die interprofessionelle Zusammenarbeit fördern.

Vielen Dank für die spannenden Einblicke.

Zahnarzt Dr. Elmar Ludwig, Dentalhygienikerin Sylvia Fresmann sowie Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Annett Horn (v. l.) arbeiten engagiert an der Implementierung von Standards in der pflegerischen und zahnmedizinischen Betreuung pflegebedürftiger Menschen, sowohl in der Häuslichkeit als auch in stationären Einrichtungen der Pflege.

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