Fachbericht

Kieferorthopädie & Aligner

16.02.23

Zahnbewegung im interdisziplinären Umfeld

Alignertherapie

Aligner, Digitalisierung, Indikation, interdisziplinär, Therapieplanung, Zahnbewegung

PD Dr. Christoph Reichert

01b – ​​Einsatz eines Power-Arms zur Derotation des Zahns 35 bei gleichzeitiger Behandlung mit Alignern.

Dank guter Prophylaxe und konservierender Maßnahmen haben viele Erwachsene bis ins hohe Alter eine nahezu komplette Dentition. Damit einhergehend steigt der Bedarf an präprothe­tischen kieferorthopädischen Maßnahmen. Das betreffende Patientengut stellt vielfach den Anspruch an wenig sichtbare Behandlungsmethoden. Weiter sind diese Behandlungen von einer guten Kommunikation zwischen Kieferorthopädie und anderen zahnmedizinischen Fachdisziplinen abhängig. Moderne Alignertherapie und die damit einhergehende Digitalisierung klinischer Prozesse eröffnet die Möglichkeit, eine Zusammenarbeit über zahnmedizinische Fachdisziplinen hinweg zu erleichtern.

Die Behandlung von Zahnfehlstellungen mit elastischen Schienen findet in der Zahnheilkunde schon lange Anwendung. Bereits 1926 berichtete Remensnyder [1] von unerwünschten Zahnbewegungen bei der Behandlung mit seiner „Flex-O-Tite“ Apparatur, einer Schiene, die der Massage des Zahnfleischs bei parodontalen Erkrankungen dienen sollte. Als originär kieferorthopädische Behandlungsapparatur mit dem Ziel, therapeutisch Zähne zu bewegen, wurde eine elastische Apparatur von Kesling mit der Einführung seines „Positioners“ vorgestellt [2], und Na-houm stellte 1964 eine thermoplastisch hergestellte Apparatur zur Behandlung von Zahnfehlstellungen vor [3]. Die Idee, thermoplastische Schienen zu nutzen, wurde später von Ponitz [4], McNamara et al. [5] und Sheridan et al. [6] bei der Herstellung von Retentionsapparaturen aufgegriffen.
Im Jahr 1997 wurde die Firma Align Technology von Chishti & Wirth gegründet [7]. Diese entwickelten ein kommerziell erhältliches Behandlungssystem, bei dem mit klaren, thermoplastischen Schienen eine Malokklusion behandelt werden konnte. 1999 stellte Align Technology das Invis-lign-Schienensystem vor, das bis heute den Begriff der „Aligner“ als Synonym für Schienen zur Korrektur von Zahnfehlstellungen prägt.

Aktueller Stand der ­Alignertherapie
Durch verschiedene, teilweise patentierte, Hilfsmittel, Herstellungsprozesse und Materialien optimierte Align Technology das Invisalign-System, so dass es bis heute einen Marktführer in der Schienenbehandlung darstellt.
Mit dem Einzug der CAD/CAM-Technologie in die Zahnheilkunde und dem Auslaufen einiger Patente kam es zu großen Bewegungen auf dem Alignermarkt. Etablierte Firmen wie Scheu mit ihrem CA Clear Aligner machten sich die Digitalisierung zunutze, aber auch namhafte Größen wie Straumann mit ClearCorrect, oder Dentsply Sirona mit SureSmile etablierten sich mit ihren Systemen auf dem Markt. Die damit einhergehenden Werbe- und Social Mediakampagnen förderten nochmals deutlich die Bekanntheit und Wahrnehmung der Alignerbehandlung. Neben der Etablierung von kommerziellen Dienstleistern ist auch die Entwicklung auf Seiten der In-office-Lösungen bemerkenswert. Durch die breitere Verfügbarkeit von 3D-Druckern, Intraoralscannern und Softwarelösungen, zum Beispiel OnyxCeph3 ist es auch für die niedergelassene Praxis möglich, alle Schritte — von der Datenerfassung, zur virtuellen Planung über 3D-Druck bis hin zur Herstellung der Schiene — in einer Hand zu halten.
Mit der Kommerzialisierung der Systeme entstanden allerdings auch Konzepte, welche man kritisch hinterfragen sollte. Geschäftsmodelle, bei denen Schienen in Shops ohne zahnärztliche Betreuung erworben werden können, oder Ansätze, bei denen die zahnärztlich/kieferorthopädische Begleitung nur beratend stattfindet, bergen die Gefahr zahnärztliche Mindeststandards zu unterlaufen.
Hierzu haben die wissenschaftlichen und standesberuflichen Organe in der jüngeren Vergangenheit deutlich Position bezogen [8]. Zu einer ordnungsgemäßen Behandlung gehören die körperliche Untersuchung, eine Röntgen- und Modelldiagnostik, sowie eine fundierte Therapieplanung und eine Behandlung unter (Fach-)zahnärztlicher Betreuung.

Möglichkeiten und Grenzen der Alignerbehandlung
Einem Zahn ist es letztlich egal, ob er mithilfe eines Aligners, einer herausnehmbare beziehungsweise vestibulären oder mittels einer lingualen, festsitzenden Apparatur bewegt wird. Entscheidende Einflussfaktoren für eine erfolgreiche Zahnbewegung sind Kraft, Kraftgrößen und -ansatz sowie deren Wirkdauer in einem gesunden Parodont [9]. Doch haben die jeweiligen Behandlungsmittel ihre Besonderheiten: Stellen Sichtbarkeit, eingeschränkte Hygienefähigkeit, Reparaturbedarf und Irritationen von Weichgeweben Nachteile von festsitzenden Apparaturen dar, so setzt eine erfolgreiche Alignerbehandlung eine perfekte Patientencompliance voraus. Die eigene Erfahrung zeigt, dass das Patientenalter und die intrinsische Motivation stark limitierende Faktoren darstellen. Bereits kleinere Abweichungen von der geplanten Zahnbewegung können sich im Laufe der Alignerbehandlung summieren und stellen das gewünschte Therapieergebnis infrage.
Gute Therapieplanung und Indikationsstellung vorausgesetzt sind Aligner jedoch eine gut erprobte Alternative zur festsitzenden Apparatur und bei der Behandlung von milden bis komplexen Malokklusionen einsetzbar [10]. Dennoch gibt es neben den allgemeinen Limitationen einer kieferorthopädischen Zahnbewegung mit festsitzenden Apparaturen auch spezifische klinische Situationen, bei denen eine Alignerbehandlung anfällig ist, dazu zählen zum Beispiel starke Rotationen, Extraktionslückenschluss oder die Behandlung hypoplastischer Zähne [11].
Zwar können diese Behandlungssituationen unter anderem durch kleinere Zwischenschritte, approximale Schmelzreduktion, sowie den Einsatz von Attachments und anderen Hilfsmitteln gelöst werden (Abb. 1a und b), setzen dann jedoch eine hohe Erfahrung auf Seiten des Behandlers voraus. In solchen Fällen eignen sich hybride Behandlungsformen, bei denen die komplexen Zahnbewegungen initial mittels Segmentbogentechnik mit oder ohne skelettale Verankerung begonnen und durch eine Alignertherapie weitergeführt werden, als sehr ergonomische Vorgehensweise (Abb. 2).

Fallselektion
Da Aligner nur ein Behandlungsmittel darstellen, liegt der Therapieerfolg oder -misserfolg häufig auf Seiten des Behandlers und dessen Erfahrung mit dem jeweiligen Gerät. Gerade bei wenig Erfahrung mit dieser Behandlungstechnik ist es sinnvoll, eine gewisse Vorauswahl zu treffen.

In folgenden Fällen sollten unerfahrene Behandler sich zurückhalten:

  • anterior-posteriore Bisslageänderungen
  • Behandlung von Kreuz- oder Scherenbissen
  • ausgeprägte vertikale Diskrepanzen
  • Engstände oder Rotationen
  • Extraktionsbehandlungen
  • Behandlung im parodontal reduzierten Gebiss
  • Behandlung im Rahmen einer dysgnathiechirurgischen Korrektur

Für den Einstieg eignen sich in unvollständiger Auflistung folgende Indikationen:

  • komplett eruptierte Zähne
  • skelettale und dentale Klasse I
  • leichte Engstände oder Lücken
  • wenig Rotationen
  • leichter Tiefbiss
  • dezenter Steilstand der Front
  • keine Extraktionen

Bei dem vorgestellten Behandlungsfall treffen viele der oben genannten Parameter zu. In diesem Fall war eine kieferorthopädische Vorbehandlung alio loco erfolgt. Dort war die Retention mittels eines spiralförmigen flexiblen Lingualretainers von Zahn 33–43 ausgeführt worden. Bei der Erstvorstellung in unserer Praxis berichtete der Patient von einer Zahnbewegung, nachdem eine Klebestelle des Retainers repariert worden war (Abb. 3a). Es lag der Verdacht nahe, dass hierbei der Draht unter Spannung adaptiert worden war und sich eine Wurzelbewegung des Zahns 42 nach lingual eingestellt hatte, welche als x-Effekt beschrieben wird [12, 13, 14]. Wir empfahlen deshalb eine zeitnahe Entfernung des Retainers, gefolgt von einer Alignerbehandlung. Die Abbildung 3b zeigt die Überlagerung der ursprünglichen Malokklusion (blau) und der simulierten Zahnbewegungen (weiß). Die Abbildung 3c veranschaulicht den Endbefund nach erfolgter Alignertherapie und zwölfmonatiger Retentionsphase. Die Zähne 41 und 42 weisen eine deutlich entspanntere gingivale Situation auf und das knöcherne Defizit in regio 42 erscheint ausgeglichen.

Alignerbehandlung im ­interdisziplinären Umfeld
In einer interdisziplinären Behandlung, sei es die Mehrbehandler-Praxis mit verschiedenen Schwerpunkten, oder räumlich getrennten Überweiserpraxen, bietet die Alignertherapie und insbesondere die damit verbundene Digitalisierung eine Vielzahl an Möglichkeiten.
Eine Ästhetikanalyse und ein virtuelles Design der Zahnformen und Größen können im Zusammenspiel zwischen Kieferorthopäden und Zahnarzt helfen, die optimale Zahnposition vor Kompositaufbauten oder Veneerversorgungen festzulegen. Die Besprechung an einem virtuellen Set-up erleichtert die Definition von präprothetischen Zahnbewegungen zur Verbesserung der Pfeilerqualität oder Lückenverteilung. Auch existieren Ansätze zur virtuellen OP-Planung bei denen 3D-Röntgenbilder mit dem intraoralen Scan in Abgleich gebracht werden können.
Die Abbildungen 4a bis d illustrieren einen Fall, bei dem der prothetischen Neuversorgung eine kieferorthopädische Behandlung voranging. Der Intraoralscan und die Simulation einer möglichen Behandlung sind ideale Hilfsmittel, um den Patienten bereits vor der Therapie optimal zu beraten und ihn für seine Situation zu sensibilisieren. Im dargestellten Fall stieg die Bereitschaft für eine nachhaltigere, wenn auch komplexere Behandlung. Im weiteren Verlauf war die Kommunikation zwischen Kieferorthopädie und Implantologie/Prothetik deutlich vereinfacht, da Zahnbewegungen und Lückenverteilungen im Vorfeld über Ortsgrenzen hinweg gemeinsam am virtuellen Set-up besprochen und festgelegt werden konnten. Dieses Vorgehen führte geradlinig zu einem akzeptablen Resultat.

Ausblick
Es ist ein Verdienst der konservierenden Zahnheilkunde, dass immer mehr Patienten in hohem Alter eine nahezu komplette Dentition aufweisen. Dies hat zu einem demographischen Wandel in der kieferorthopädischen Praxis geführt [15]. Korrekturen eines tertiären Engstands, präprothetische Behandlungsindikationen und Behandlungen im parodontal reduzierten Gebiss sind heute klinische Routine. Diese Patienten haben einerseits vielfach einen hohen Anspruch an wenig sichtbare Behandlungsmethoden, andererseits steigt der Bedarf an interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Kieferorthopäden, Parodontologen, Implantologen und Prothetikern.
Dank der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Lingualtechnik [16] und Alignertherapie [17] stehen der Kieferorthopädie gute Methoden zur Verfügung, dem Wunsch nach wenig sichtbaren Therapiestrategien nachzukommen. Gerade die Digitalisierung verschiedener klinischer Prozesse erleichtert die Zusammenarbeit über zahnmedizinischen Fachdisziplinen hinweg. Eine direkte Visualisierung der klinischen Situation hilft im Hinblick auf (interdisziplinäre) Kommunikation sowie Patientenaufklärung und macht schwierige Sachverhalte weniger abstrakt. Auch ergeben sich neue Möglichkeiten in der Patientenversorgung. Ansätze sind zum Beispiel die gleichzeitige Nutzung von intraoralen Scans zur Herstellung von kieferorthopädischen Apparaturen, aber auch für prothetischen Zahnersatz oder Bohrschablonen – ohne Abformung oder mehrfache Konsultation des Patienten bei unterschiedlichen Behandlern. Cloudbasierte Lösungen bieten zudem viele Vorteile im Hinblick auf Archivierung und Behandlungsdokumentation. Die Weiterentwicklungen der Alignertherapie in den vergangenen Jahren waren ein starker Impuls für die Digitalisierung der kieferorthopädischen Praxis. Bis heute findet hier ein ständiger Wandel statt und wird auch zukünftig starke Auswirkungen auf die Zahnmedizin haben.

Literaturliste
www.teamwork-media.de/literatur

Vita
PD Dr. Christoph Reichert ist in eigener kieferorthopädischer Fachpraxis in Bad Dürkheim tätig. Er hat im Jahre 2014 zum Thema „Einbindung von Knochenersatzmaterial in die kieferorthopädische Behandlung“ an der Medizinischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn habilitiert. Seit 2018 ist er als Sachverständiger Kieferorthopädie BZK Pfalz tätig und seit 2019 Diplomate of the German Board of Orthodontics and Orofa­cial Orthopedics. Er erhielt verschiedene wissenschaftliche Auszeichnungen, unter anderem den Arnold-Biber-Preis der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie 2016.

Kontakt
PD Dr. Christoph Reichert
Mannheimer Straße 16
67098 Bad Dürkheim
info@kfo-reichert.de

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