Fachbericht
Kieferorthopädie & Aligner
21.10.21
Was ist digital möglich?
Kieferorthopädische Diagnostik und Therapieplanung
Intraoralscan, Fernröntgenseitenbild (FRS), Modellanalyse, Visualized Treatment Objective (VTO)
Die zunehmende Digitalisierung der Zahnmedizin nimmt auch im kieferorthopädischen Arbeitsalltag großen Einfluss. Dies beginnt schon im Arzt-Patienten-Kontakt während der Erstuntersuchung und der anschließenden Diagnostik, die sich in den vergangenen Jahren deutlich weiterentwickelt hat, sodass nun eine Durchführung im komplett digitalen Workflow möglich ist. Dieser Workflow umfasst die digitale Fotografie, das digitale Röntgen und die digitale Abformung. Dieser Beitrag fokussiert den Intraoralscan sowie die digitale Auswertung der erstellten Unterlagen in Form der Modell- und der Fernröntgenseitenbild(FRS)-Analyse.
Fragen zum Einsatz digitaler Technologie
Welche Vorteile bietet die digitale Diagnostik?
Dr. Lukas Brämswig: Das digitale Röntgen bietet neben der Verfügbarkeit an mehreren Arbeitsplätzen weitere Vorteile wie eine bessere Auflösung und Möglichkeiten zur Bildbearbeitung. Ähnliches gilt für die Digitalfotografie. Die digitale Abformung ist für den Patienten komfortabler und kann direkt im Anschluss mit dem Patienten besprochen werden. Die Herstellung eines Modells im Labor entfällt, und somit besteht nicht mehr die räumliche Problematik der Archivierung.
Kann der Intraoralscan die konventionelle Abformung ersetzen?
Tamara Pollak: Die Genauigkeit der digitalen Abformung entspricht der konventioneller Abformungen. Sollte beispielsweise für Laborarbeiten ein Modell benötigt werden, kann das virtuelle Modell in einem der konventionellen Modellherstellung vergleichbaren Zeitintervall gedruckt werden.
Mit den heutigen Möglichkeiten kann ein Patient in einem vollständig digitalen Workflow behandelt werden. Dies beginnt schon in der ersten Sitzung, wenn auf das Beratungsgespräch eine Diagnostik zur kieferorthopädischen Behandlungsplanung folgt.
Neben der Anamnese, dem intra- und extraoralen Befund und der Funktionsuntersuchung gehören zu einer vollständigen kieferorthopädischen Diagnostik intra- und extraorale Fotos, Panoramaschichtaufnahme, Fernröntgenseitenbild und Abformungen des Ober- und Unterkiefers sowie ein Wachsbiss in Schlussbiss zur Modellherstellung.
Weite Verbreitung in den Praxen haben bisher die digitale Fotografie und das digitale Röntgen gefunden. Zur Erstellung der intra- und extraoralen Fotos hat sich die Verwendung einer Digitalkamera mit suffizienter Ausleuchtung des Arbeitsfeldes etabliert. Das digitale Röntgen bietet neben der Verfügbarkeit an mehreren Arbeitsplätzen Vorteile wie die bessere Auflösung, Möglichkeiten zur Bildbearbeitung und eine geringere Strahlenbelastung.
Intraoralscan
Mit ihrer stetigen Weiterentwicklung haben in den vergangenen Jahren auch vermehrt Intraoralscanner Einzug in den Praxisalltag gefunden.
Der Intraoralscan stellt eine hervorragende Alternative zur Abformung dar:
• Die Akzeptanz ist im Vergleich zur konventionellen Abformung vor allem bei Kindern und Patienten mit Handicap größer.
• Dem Patienten können anhand des Scans direkt im ersten Gespräch die kieferorthopädischen Problematiken demonstriert werden.
• Die Modellherstellung im Labor entfällt.
• Die räumliche Problematik der Modellarchivierung entfällt.
Je nach Anwendungsfall sollte ein geeignetes Scansystem gewählt werden, wobei für die kieferorthopädische Diagnostik die kompletten Zahnbögen des Ober- und Unterkiefers und der Biss erfasst werden müssen sowie in einigen Fällen der Gaumen und der linguale Alveolarfortsatz. Neben puderfreien Scansystemen sind auch Systeme verfügbar, die eine Bepuderung der zu scannenden Oberflächen voraussetzen. Aufgrund des geringeren Zeitaufwands, des Patientenkomforts und der realistischen Farbwiedergabe sollte ein puderfreies System gewählt werden. Die Genauigkeit der puderfreien Systeme entspricht der konventioneller Abformungen, wobei auf eine ausreichende Trockenlegung zu achten ist [7]. Der häufig in der Handhabung erschwerte Scan des Gaumens führt nicht zu einer höheren Präzision des kompletten Zahnbogenscans [8]. Dutton et al. beschäftigten sich mit der Genauigkeit aktueller Scansysteme abhängig vom zu scannenden intraoralen Gewebe im Vergleich zur vorherigen Generation: Die mit der neuesten Scannergeneration erreichte Genauigkeit ist (mit Ausnahme des Trios3) stark von der zu erfassenden Oberfläche abhängig, aber allgemein deutlich höher als die mit den älteren Geräten zu erreichenden Werte [3]. Üblicherweise wird die Genauigkeit anhand der Richtigkeit, die als Ausmaß der Abweichung des gescannten Testobjekts von dem Referenzobjekt definiert wird, und der Präzision gemessen, die der Reproduzierbarkeit der Messwerte entspricht; für den Scan eines vollständigen Zahnbogens geben Dutton et al. die in Tabelle 1 genannten Werte für die unterschiedlichen Scannersysteme an: Bereits im Jahr 2000 entwickelte das Universitätsklinikum Bonn einen Prototyp, mit dem es möglich war, einen Intraoralscan nach dem Prinzip der Laser-Triangulation zu erstellen [2]. Die bei der aktiven Triangulation von dem Scankopf auf die zu scannenden Oberflächen projizierten Lichtstreifen werden reflektiert und von einem Sensor im Scankopf registriert, wodurch die Oberflächenstruktur berechnet werden kann. Ein anderes Verfahren ist die konfokale Mikroskopie, bei der Licht parallel auf die zu registrierende Oberfläche gestrahlt und im selben Strahlengang reflektiert wird. Dies übermittelt Informationen über den Oberflächen-Sensor-Abstand, wodurch unterschiedliche Tiefenschärfenebenen gleichzeitig scharf dargestellt werden können.
Steht ein geeignetes Scansystem zur Verfügung, müssen die Zähne vorbereitend gereinigt und die Lichtverhältnisse angepasst werden. Revilla-Léon et al. untersuchten die Scangenauigkeit bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen und kamen zu dem Schluss, dass Raumlicht im Vergleich zu Arbeitslicht (Stuhllampe), natürlichem Licht und Dunkelheit zur höchsten Präzision beim Scan eines kompletten Kiefers führt [11]. Ein entscheidender Faktor für die Genauigkeit des Scans und auch die Arbeitsgeschwindigkeit ist das Handling während des Scanvorgangs. Es empfiehlt sich, die vom Hersteller vorgeschlagenen Scanpfade zu beachten. 3shape sieht beispielsweise für den Scanner Trios3 unterschiedliche Pfade für den Ober- und Unterkiefer vor. Im Unterkiefer soll der Zahnbogen zunächst okklusal von Molar zu Molar gescannt werden, wobei in der Front kippende Bewegungen zu vollziehen sind; anschließend wird der Scankopf, ohne den Scanvorgang zu unterbrechen, nach lingual geführt und der Zahnbogen bis zum letzten Molar der Gegenseiten gescannt. Dort wird der Kopf wiederum ohne Unterbrechung nach bukkal geführt, um den vestibulären Anteil des Zahnbogens abzubilden. Für den Oberkiefer wird ein neuer Scanvorgang gestartet; es werden die gleichen Bewegungen, jedoch in der Reihenfolge okklusal – bukkal – palatinal empfohlen. Anschließend wird der Patient gebeten zuzubeißen und der Biss wird lateral in maximaler Interkuspidation gescannt. Die Software berechnet nun ein 3-D-Modell der Kiefer in Okklusion, das von allen Seiten begutachtet werden kann (Abb. 1). Ist der Behandler geübt, dauert dies nur wenige Minuten.
Sobald die diagnostischen Unterlagen mit intra- und extraoralen Fotos, OPG, FRS und Intraoralscan erstellt wurden, kann bei Vorliegen eines geeigneten Programms mit der ebenfalls komplett digitalen Auswertung begonnen werden. Anhand des in deutschen kieferorthopädischen Praxen weit verbreiteten Programms OnyxCeph (Image Instruments) soll der weitere Workflow demonstriert werden.
Scanner | System | Richtigkeit in [µm] | Präzision in [µm] |
Omnicam | Aktive Triangulation | 58 | 82 |
Emerald | Aktive Triangulation | 52 | 74 |
Emerald S | Aktive Triangulation | 40 | 57 |
iTero Element | Parallel konfokal | 36 | 51 |
Medit i500 | Aktive Triangulation | 34 | 48 |
Medit i500 HD | Aktive Triangulation | 29 | 41 |
Trios3 | Parallel konfokal | 22 | 31 |
iTero Element 2 | Parallel konfokal | 21 | 30 |
Primescan | Dynamic depth scan | 17 | 25 |
Fotoanalyse
Die in die Software eingelesenen Fotos können nun nach einem durch den Nutzer vorgegebenen Schema ausgewertet werden. Ziel dieser Analysen ist die Beurteilung der Gesichtssymmetrie im entspannten Zustand. In Abbildung 2 (lächelnde Patientin) soll die Relation der Kiefer- zur Gesichtsmitte, die Neigung der Okklusionsebene, sowie die Rot-Weiß-Ästhetik beurteilt werden. Vorteil der digitalen Auswertung ist einerseits die Möglichkeit zur Vergrößerung, andererseits die leicht umsetzbare maßstabsgetreue Auswertung.
Modellanalyse
Die Modellanalyse findet ebenfalls innerhalb weniger Minuten statt. Vorbereitend muss der im Scan generierte 3-D-Datensatz „gesockelt“ werden. Dafür gelten die gleichen Regeln für die Positionierung in der Sagittalen, Vertikalen und Transversalen wie beim konventionellen Sockeln. Anschließend wird das Modell segmentiert: Der Behandler legt durch einen Punkt in die Zentralfissur die Position des entsprechenden Zahns fest (Abb. 3). Dies wird für jeden Zahn einzeln durchgeführt, sodass das Programm anschließend die Zahndimensionen berechnen kann. Wurde jeder Zahn richtig erfasst, können die Zahnkronen separiert werden, woraufhin eine Berechnung der Zahnachsen inklusive Darstellung der Zahnwurzeln erfolgen kann (Abb. 4). Diese Darstellung der Zahnwurzel entspricht nicht der Realität, ist aber für eine Einschätzung der Zahnachsen und der apikalen Platzverhältnisse sehr hilfreich. Abschließend sollten die berechneten Punkte überprüft werden (Abb. 5).
Im Zuge der Modellanalyse werden intramaxilläre Abweichungen wie die Platzverhältnisse in der Front und den Stützzonen oder die anteriore und posteriore transversale Breite beurteilt (Abb. 6).
Darüber hinaus werden intermaxilläre Verhältnisse wie Bisslage, Overjet und -bite betrachtet. Vorteil der digitalen Modellanalyse ist neben der Zeitersparnis die behandlerunabhängige Reproduzierbarkeit der Messergebnisse. Die konventionelle Methode sieht das händische Ausmessen der mesiodistalen Zahnbreiten mit einer Schieblehre vor, wobei die Messergebnisse je nach Anlegen der Schieblehre deutlich variieren können. Dies wird einerseits durch die Erfahrung des Behandlers [4], andererseits durch die Qualität des Gipsmodells und die Rotationen der Zähne beeinflusst. Stark verschachtelt stehende Zähne können die Positionierung der Schieblehre erschweren. Kumar et al. untersuchten die Genauigkeit der digitalen im Vergleich zur konventionellen Modellanalyse und fanden keine signifikanten Unterschiede der Messergebnisse [6]. In einer Studie von Koretsi et al. führte die digitale Modellanalyse zu verlässlicheren Messergebnissen, wobei durchschnittlich größere mesiodistale Zahnbreiten, aber geringere anderweitige Distanzen gemessen wurden [5]. Auch bei geringen bis hin zu ausgeprägten Engständen liefert die digitale Modellanalyse verlässliche Messergebnisse [13].
Fernröntgenseitenbild
Anhand des Modells können zwar die intramaxillären Platzverhältnisse und die Relation der Kiefer zueinander beurteilt werden, es liegt jedoch keine Information zu den knöchernen Verhältnissen vor. Anhand des Fernröntgenseitenbildes (FRS) können in der Sagittalen und Vertikalen Aussagen über die Relation der beiden Kiefer zur Schädelbasis, die Wachstumskonfiguration und dentale Parameter getroffen werden. Dazu werden definierte anatomische, dentale und konstruierte Punkte sowie Weichteilpunkte gesetzt, an deren Verbindungslinien unterschiedliche Winkel ausgemessen werden (Abb. 7). Die konventionelle Methode umfasst die händische Positionierung der Punkte und Linien sowie das Ausmessen der Winkel am analogen Röntgenbild oder eines qualitativ hochwertigen Ausdrucks eines digitalen Röntgenbilds. Neben der Zeit- und Kostenersparnis ist die Qualität des auszuwertenden Bilds ein großer Vorteil der digitalen Methode, da der Ausdruck mit dem entsprechenden Qualitätsverlust bezüglich der Auflösung und Farbwiedergabe entfällt. Dank der Möglichkeiten zur Bildbearbeitung wie Veränderung des Kontrasts und der Helligkeit können Punkte verlässlicher positioniert werden [9]. Chen et al. verglichen konventionelle und digitale Auswertung und fanden eine hinreichende Zuverlässigkeit der digitalen Auswertung [1].
Simulation mittels VTO
Neben der gewöhnlichen Auswertung kann auf der Basis des FRS auch ein Visualized Treatment Objective (VTO) erstellt werden. Ein VTO ist eine Simulation beispielsweise eines postoperativen Behandlungsergebnisses bei kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischer Therapie (Abb. 8) oder eine Wachstumsprognose (Abb. 9) bei ausgeprägter Tendenz zur Progenie schon vor dem pubertären Wachstumsschub. Nach Toepel-Sievers et al. war über einen fünfjährigen Beobachtungszeitraum die Prognose der knöchernen Schädelentwicklung unter kieferorthopädischer Therapie valide, nicht jedoch für die Entwicklung der dentalen sowie der dentoskelettalen Relationen und der Weichteilkonfiguration [12]. In einer aktuellen Studie zur Voraussage der Weichgewebeveränderungen in Folge einer kieferorthopädischen Behandlung war die Genauigkeit in der Vorhersage in der vertikalen Dimension akkurater als in der Horizontalen; die höchste Vorhersagegenauigkeit konnte für die Position der Oberlippe und die geringste Genauigkeit für die Position des Kinns erzielt werden [14]. Der Verwendungszweck sollte jedoch die Demonstration der geplanten Therapie und die Vereinfachung der Arzt-Patienten-Kommunikation sein und nicht die konkrete Vorhersage von Therapieergebnissen oder die exakte Planung operativer Eingriffe [10].
Neben den konventionellen Röntgenverfahren wird in komplexen Behandlungsfällen zunehmend eine digitale Volumentomografie (DVT) angefertigt. Kieferorthopädische Indikationen wären beispielsweise Verlagerung von Zähnen, multiple Mehranlagen oder Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (Abb. 10). Liegt ein DVT vor, können OPG und FRS daraus berechnet werden und sollten nicht zusätzlich angefertigt werden.
Literaturverzeichnis unter www.teamwork-media.de/literatur
Produkt | Produktname | Firma |
Bildverwaltungssoftware | OnyxCeph | Image Instruments |
Intraoralscanner | Trios3 | 3shape |
Fachbericht
Kieferorthopädie & Aligner
21.10.21
Was ist digital möglich?
Kieferorthopädische Diagnostik und Therapieplanung
Intraoralscan, Fernröntgenseitenbild (FRS), Modellanalyse, Visualized Treatment Objective (VTO)
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