Interview

Alterszahnheilkunde

12.10.23

Barrierefreiheit ­­beginnt im Kopf

Alterszahnmedizin: Wenn Multimorbidität und ­Gebrechlichkeit den Alltag ­prägen

Alterszahnmedizin, Barrierefreiheit, Demenz, Multimorbidität, Mundhygiene, Polypharmazie, Versorgungskonzepte, Vorsorgevollmacht, zahnärztliche Betreuung

Natascha Brand

sad old person fighting dementia

Die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf erfordert eine Vielzahl an Kompetenzen wie beispielsweise Kenntnisse über rechtliche Aspekte, Multimorbidität und Polypharmazie, Beziehungsgestaltung bei Demenz, Aspirationsgefahr und Aspekte der Mundhygiene bei Unterstützungsbedarf. Dr. ­Elmar Ludwig ist Zahnarzt, Mitinitiator von mund-pflege.net und Mitglied der Arbeitsgruppe für den Expertenstandard „Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“. Aus all diesen Blickwinkeln erläutert er, wie die Betreuung geriatrischer Patienten in der Praxis und in der aufsuchenden Behandlung gelingt.

Als niedergelassener Zahnarzt und Visionär für die zahnmedizinische Betreuung geriatrischer Patienten hat Dr. Elmar Ludwig alle Aspekte einer umfänglichen Versorgung im Blick. Neben seiner Praxistätigkeit ist er in unterschiedlichen Pflegesettings unterwegs, dazu zählen stationäre und ambulante Einrichtungen der Langzeitpflege, ein Palliativnetzwerk, das geriatrische Krankenhaus und natürlich die Häuslichkeit. Hinzu kommen standespolitische Tätigkeiten zur Implementierung von Standards für die Alterszahnmedizin. Nachfolgend erläutert er die 13 wichtigsten Themenblöcke für Zahnärzte in der Versorgung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf.

Bedarfe/Zusammenhänge Mundgesundheit-­Allgemeinerkrankungen

Zahnarztpraxen müssen heute vielen Anforderungen gerecht werden; erschwerend kommt noch der Personalmangel hinzu. Herr Dr. Ludwig, was hat Sie dazu bewogen, in Ihrer Praxis ein Konzept zur zahnärztlichen Betreuung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf zu entwickeln?
Dr. Elmar Ludwig: Wir leben in Deutschland in einer Gesellschaft des längeren Lebens, und die bisherigen Prognosen zur Zahl pflegebedürftiger Menschen wurden in den letzten Jahren regelmäßig von der Realität eingeholt. Diese Menschen haben oft über Jahrzehnte unsere Präventionsangebote wahrgenommen, und haben im Alter – heute anders als früher – noch viele eigene Zähne im Mund oder technisch aufwendigen Zahnersatz, zunehmend auch abgestützt auf Implantaten. Wenn diese Patienten nun allmählich in ihrer Mobilität oder Kooperationsfähigkeit eingeschränkt sind, steht es uns gut zu Gesicht, Angebote zu entwickeln, diese Menschen mit Augenmaß zahnärztlich zu begleiten. Trotz der ein oder anderen Lücke haben wir doch in den vergangenen zehn Jahren viele abrechenbare Leistungen an die Hand bekommen, um die bestehenden Bedarfe zu erfüllen. Zudem steigt der Druck: Betroffene und ihr Umfeld wünschen sich ganz explizit, dass wir uns um sie kümmern. Auch der neue Expertenstandard zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege beschreibt die Notwendigkeit der interprofessionellen Zusammenarbeit. Übrigens: Ob Einbehandler- oder Mehrbehandlerpraxis, die aufsuchende Betreuung bietet viele Möglichkeiten, mit wenig Risiko in der Praxis zu expandieren, ohne dass zum Beispiel zusätzliche Räumlichkeiten geschaffen werden müssen. Und ich absolviere viele Haus­besuche ohne eine Mitarbeiterin, weil das häufig einfach sehr gut geht. In Zeiten des Personalmangels auch ein Gedanke, der nicht zu verachten ist. Unsere Profession ist im stetigen Wandel und es ist gut, sich darauf einzustellen.

Mundgesundheit hat großen Einfluss auf verschiedene Allgemeinerkrankungen. Welche Aspekte stehen dabei für Sie im Vordergrund?
Selbst in der Ausbildungsordnung der Pflege aus dem Jahr 2003 waren die zwei großen Schlagworte für die Mundpflege die Soor- und Parotitisprophylaxe. Richtig, nicht Parodontitisprophylaxe, sondern die Vermeidung von Entzündungen der ­Ohrspeicheldrüse. Man ging im Wesentlichen also immer noch davon aus, dass der alte und pflegebedürftige Mensch zahnlos ist. Aber wie schon gesagt verfügen alte Menschen heute zunehmend über viele eigene Zähne. In den vergangenen 20 Jahren sind die Bedeutung der Mundgesundheit und die negativen Auswirkungen der Parodontitis für viele Allgemeinerkrankungen wie Diabetes, Rheuma oder Herz-Kreislauferkrankungen durch wissenschaftliche Studien zunehmend gut belegt. Mundgesundheit reduziert das Risiko für Lungenentzündungen um 50 Prozent! Gutes Kauvermögen erhält die Muskelmasse und Kraft für die Bewältigung der körperlichen Alltagsaktivitäten. Zudem wird der zerebrale Blutfluss gefördert und die Stressbewältigung gelingt ebenfalls besser. Wer gut kauen kann, bleibt länger fit – körperlich und ­kognitiv.

Barrierefreiheit

Viele Praxen sind nicht im Erdgeschoss und nicht immer gibt es einen Aufzug. Müssen sich die Patienten dieser Praxen einen neuen Zahnarzt suchen, wenn sie auf einen Rollator oder gar Rollstuhl angewiesen sind?
Wenn es um ein paar Stufen am Eingang oder bis zum Aufzug geht, dann gibt es kreative Lösungen und mit etwas Recherche im Internet wird man schnell fündig (Abb. 1 und 2). Viele Menschen können mit Unterstützung Treppen gut bewältigen. Zudem kann beim Beförderungsunternehmen bei Bedarf Unterstützung angefragt werden. Aber Stufen und Treppen sind ja nur ein Aspekt unter vielen.

Was fällt Ihnen noch ein, wenn Sie an Barrierefreiheit denken?
Barrierefreiheit beginnt im Kopf! Zunächst gilt es, in der eigenen Praxis die Barrieren zu identifizieren. Und damit meine ich nicht nur bauliche Gegebenheiten. Dazu gehört alles, was den Praxisbesuch für gebrechliche Menschen beschwerlich macht. Wir müssen uns fragen, wie gut sind wir auf diese Menschen mit Ihren Bedarfen und Bedürfnissen in unserer Praxis eingestellt sind – gemeinhin wird das als der gerostomatologische Wohlfühlfaktor bezeichnet. Dazu zählen die Gestaltung der Rezeption sowie der Toilette, Lesebrillen, Transfer- beziehungsweise Lagerungshilfen (Abb. 3) und gegebenenfalls auch ein Speitrichter als hilfreiches Tool in der Behandlung. Noch wichtiger aber ist es, die Praxisabläufe zu hinterfragen. Berücksichtigen wir bei der Terminvergabe, wann es für die Patienten am angenehmsten ist, zu uns zu kommen? Denken wir daran, sie in der Praxis gut zu begleiten, zum Beispiel bei Demenz, oder wenn die Mobilitiät eingeschränkt ist? Sind wir geschult im Umgang mit demenziell erkrankten Menschen? Haben wir die Aspirationsgefahr in der Behandlung im Blick? Und schließlich gehört dazu auch ein Konzept zur aufsuchenden Betreuung.

Polypharmazie

Im Alter müssen Menschen häufig eine Vielzahl an Medikamenten nehmen. Ist das für Sie ein Problem im zahnärztlichen Praxisalltag? Wie kann man sich hier vorbereiten?
Im Praxisalltag gibt es hinsichtlich der Medikation durchaus ein paar „Stolperfallen“, die wir im Blick haben sollten. Mit den Themen Blutverdünnung und antiresorptive Therapie sind wir Zahnärzte in der Regel ganz gut vertraut. Viele von uns wissen jedoch nicht, dass gewisse Antidepressiva die Wirkung der Medikamente zur Blutverdünnung deutlich verstärken. Und mit Ibuprofen sollten wir bei Menschen, die viele Medikamente einnehmen müssen, sehr zurückhaltend sein. Das kann für die Niere der Tropfen zu viel sein, der dann das Fass zum Überlaufen bringt und die Menschen dialysepflichtig macht. Listen für potenziell inadäquate Medikation und auch der Medikationsplan können hilfreich sein, aber auch diese Instrumente haben ihre Tücken.

Rechtliche Aspekte

Bei einem Menschen mit Pflegegrad muss ein Zahn entfernt werden. Wen muss ich dann für die Einwilligung aufklären?
Selbst Menschen, die in der Kooperationsfähigkeit eingeschränkt sind, sollten ­soweit möglich in alle Entscheidungsprozesse einbezogen und ihr Wunsch beziehungsweise ihr Wille berücksichtigt ­werden.
Betreuer beziehungsweise Bevollmächtigte sind nicht zwingend für alle Fragen automatisch und vollumfänglich zuständig. Die Aufgabenkreise sind in der Betreuungsurkunde beziehungsweise der Vorsorgevollmacht beschrieben. Geht es um die Entfernung eines Zahns, dann handelt es sich um einen Eingriff in die körperliche Integrität und betrifft also die Einwilligungsfähigkeit im Aufgabenkreis der Gesundheitssorge. Anders als bei der Geschäftsfähigkeit spielt bei der Einwilligungsfähigkeit die Orientierung – räumlich, zeitlich, persönlich und situativ – eine wichtige Rolle. Ist bekannt, dass es einen Betreuer beziehungsweise einen Bevollmächtigten für den Aufgabenkreis der Gesundheitssorge gibt, sollten wir auch dessen Einwilligung einholen. Ansonsten ist bei guter Orientierung mit einem entsprechenden kurzen Vermerk in die Karteikarte der Eingriff nach Aufklärung und Einwilligung der betroffenen Person auch so möglich.

Und wie sichere ich meinen Honoraranspruch, wenn es in der Folge darum geht, die bestehende Prothese zu erweitern?
Bei der Geschäftsfähigkeit ist die Lage klar: Liegt der Praxis keine Unterschrift zu Mehrkostenvereinbarungen oder Honorarvereinbarungen vor, kann ich im Streitfall auch keinen Anspruch auf die Erstattung erwarten.

Flyer & Formulare

Die Kommunikation und Dokumentation ist ein großes Thema in den Praxen. Bloß nicht noch mehr Formulare! Aber ohne geht es auch nicht, oder? Wie machen Sie das in Ihrer Praxis?
Wollen wir strukturiert arbeiten, kommen wir nicht ohne Flyer und Formulare aus. Es kommt allerdings darauf an, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Informationen zu geben beziehungsweise zu erfragen. Da kann man ordentlich über das Ziel hinausschießen und auch das Setting spielt eine große Rolle: Geht es zum Beispiel um die Behandlung in der Praxis, einen Erstkontakt im Hausbesuch oder geht es um die Dokumentation bei der Arbeit im Rahmen des Kooperationsvertrags? Für alle diese Fälle haben wir uns über die Jahre viele Gedanken gemacht. Unsere Flyer sowie Formulare sind unter dem Aspekt der Effizienz optimiert und stetig an die jeweils neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen angepasst (Abb. 4 und 5).

Abrechnung

Häufig hört man, vor allem Hausbesuche, aber auch die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf insgesamt ist nicht gut honoriert. Was sagen Sie dazu?
Sicher ist noch Luft nach oben. Aber immer wieder gilt: Konzept und Routine sind entscheidend. Wenn Sie einmal im Jahr eine Amalgamfüllung legen, ist das Ergebnis in jeder Hinsicht, auch betriebswirtschaftlich, nicht befriedigend. Der Gesetzgeber hat uns in den vergangenen zehn Jahren viele neue abrechenbare Leistungspositionen an die Hand gegeben und gibt uns Spielräume für die Prävention bis hin zur Parodontitisbehandlung in der verkürzten Strecke. Geht man in der Behandlung mit Augenmaß vor, wofür es übrigens auch medizinisch gesehen viele gute Gründe gibt, muss sich die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf nicht „verstecken“.

Versorgungskonzepte

Sie haben jetzt immer wieder betont, man müsse ein Konzept haben. Im Hinblick auf organisatorische Fragen haben Sie uns viele anschauliche Beispiele gegeben. Gibt es auch bei der Behandlung selbst besondere Konzepte, die anzuwenden sind?
Die Gruppe der pflegebedürftigen Menschen ist sehr inhomogen. Für uns in der Zahnmedizin geht es ja vor allem um Therapie- und Mundhygienefähigkeit sowie Eigenverantwortlichkeit. Für eine bessere Orientierung im Praxisalltag hat Prof. Dr. Ina Nitschke diesen Kategorien verschiedenen Kriterien zugeordnet und darüber die sogenannte zahnmedizinische funktionelle Kapazität mit vier verschiedenen Belastungsstufen entwickelt. Diese Kriterien können vor allem am Anfang helfen, wenn es darum geht, was ich bei wem mache und wo man für sich selbst die Grenzen jeweils definiert. Allgemein sollte man zunächst Aufwand und Risiko geringhalten und mit der Zeit beziehungsweise mit wachsender Erfahrung kann man sich langsam weiter vortasten, bitte dabei aber immer die Risiken im Blick behalten. Neben dem konzeptionellen Rahmen gibt es zudem interessante Ideen oder Empfehlungen für einzelne zahnärztliche Therapiemaßnahmen.

Prävention in Praxis & ­Häuslichkeit

Eingangs haben sie erwähnt, dass die Zahl pflegebedürftiger Menschen stetig zunimmt und diese Menschen immer mehr eigene Zähne haben. Welche Konsequenzen müssen wir daraus für die Praxis ziehen?
Wird ein Mensch pflegebedürftig, dann gilt es viele zeit- und nervenaufreibenden Fragen zu klären. Wie beantragt man einen Pflegegrad? Wo bekomme ich pflegerische Unterstützung? Müssen die eigenen vier Wände umgebaut werden und wenn ja, wie? Welche materiellen und vor allem finanziellen Ansprüche hat man, und wo muss man diese beantragen? In dieser Gemengelage geraten alle bisherigen Routinen, auch der regelmäßige Besuch beim Zahnarzt schon mal ins Hintertreffen. Wird das Thema auch von zahnärztlicher Seite nicht angesprochen und die tägliche Mundhygiene vernachlässigt, weil die motorischen Fähigkeiten nachlassen, geht es mit der Mundgesundheit schnell bergab. Und nach einer gewissen Zeit, wenn Karies und Parodontitis weit fortgeschritten sind, stellt sich berechtigt die Frage, was man da noch machen soll.
Wir müssen auf standespolitischer Ebene alle Player im Netzwerk der Pflege sensibilisieren. Der Expertenstandard ist dabei ein sehr guter Hebel. Aber vor allem müssen wir in unseren Praxen auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Mundgesundheit auch bei Pflegebedürftigkeit hinweisen. Sei es über Poster und Flyer, zum Beispiel im Wartezimmer, oder über das direkte Gespräch mit unseren Patienten – da gibt es jeden Tag jede Menge Gelegenheiten (Abb. 4).
Ganz wichtig ist auch, Pflegegrade zu erfragen, Mundgesundheitsstatus, Plan und Aufklärung im Praxisalltag zu etablieren und das Augenmerk auf die Nachsorgekompetenz zu legen (Abb. 5). Bewusst anzusprechen, wer die Mundhygiene durchführen kann, wenn Zähne mit Füllungen, Kronen, Brücken oder Prothesen versorgt oder die Parodontitisbehandlung gerade durchgeführt wurden.

Kooperationsvertrag

Mundgesundheitsstatus, Plan und Aufklärung kann man seit 2018 auch ohne Vertrag erbringen und abrechnen. Warum soll man denn als Zahnarzt überhaupt einen Kooperationsvertrag mit Pflegeeinrichtungen schließen?
Es hat einfach grundsätzlich Sinn, über einen Vertrag eine gewisse Verbindlichkeit und Verlässlichkeit herzustellen. Zudem wäre korrekterweise alternativ bei regelmäßiger Tätigkeit in einer stationären Pflegeeinrichtung die Besuchsposition BS3 in Ansatz zu bringen, und da sind die Zuschlagpositionen acht Punkte niedriger bewertet als bei den Kooperationsvertragspositionen BS4 und BS5. Da ist dann also der Kooperationsvertrag auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht interessant. Abgesehen davon sind stationäre Pflegeeinrichtungen seit 2019 dazu verpflichtet, Kooperationsverträge zu schließen. Das heißt, es ist gar nicht die Frage, ob ein Kooperationsvertrag geschlossen werden muss, sondern nur wann. Die Regeln im Kooperationsvertrag sind im Praxisalltag nicht wirklich ein Problem. Unterm Strich gilt: Mehr Chancen als Risiken!

Fälle in der aufsuchenden ­Betreuung

Manche Zahnärzte denken, sie können, ja sie dürfen gar nicht außerhalb der Praxis zahnärztliche Behandlungen durchführen? Wie sind Hausbesuche berufsrechtlich geregelt?
Nach der Berufsordnung ist die zahnärztliche Behandlung außerhalb der eigenen Praxis erlaubt. Nach dem Bundesmantelvertrag für Zahnärzte sind Hausbesuche bei Menschen mit Pflegegrad oder Eingliederungshilfe sogar ausdrücklich erwünscht. Bei allem, was wir tun, egal ob in der Praxis oder an anderen Orten, ist jedoch zu gewährleisten, dass wir sachgerecht und gewissenhaft arbeiten. Eher unkritisch sind Erstkontakte, Verlaufsbetreuungen, die Prävention und alle wenig invasiven Maßnahmen wie die Entfernung scharfer Kanten, Unterfütterungen oder Reparaturen, einfache Abformungen bis hin zu „einfachen“ Extraktionen (Abb. 6). Grundsätzlich sollte die Berufshaftpflichtversicherung über unsere Tätigkeit außerhalb der Praxis informiert sein. Sind wir im Team unterwegs, sollten in den Arbeitsverträgen die unterschiedlichen Arbeitsorte beschrieben sein.

Fälle in der Praxis

Welche Patienten holen Sie lieber zu sich in die Praxis und worauf sollte man dabei achten?
Immer wenn umfangreichere Behandlungen wie Füllungen, Wurzelkanalbehandlungen oder größere chirurgische Eingriffe angezeigt und notwendig sind, hole ich die Patienten in die Praxis. Das sind in der Regel Menschen, die ich für entsprechend belastbar halte, die aber dennoch gebrechlich sind und bei denen ich deshalb möglichst wenig Kompromisse im Hinblick auf Hygiene, Absaugung, Röntgen und Lagerung machen möchte. Auch für Notfallsituationen sind wir in der Praxis besser gewappnet als in der Häuslichkeit oder selbst in einer Pflegeeinrichtung.
Die Termine planen wir an Tagen mit vielen Kontrollen. Dann sind wir flexibler, wenn sich beispielsweise der Transport verspätet. Wir können zudem dem betroffenen Patienten immer wieder Pausen geben. Bei der Uhrzeit orientieren wir uns daran, wann die Betroffenen die größte Leistungsbereitschaft haben. Toll wäre es, wenn eine vertraute Bezugsperson dabei sein kann (Abb. 7). Am Ende des Tages bin ich immer wieder beeindruckt, wie viel wir geschafft haben.

Expertenstandard ­Mundgesundheit

Was hat es mit dem neuen Expertenstandard zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege auf sich?
Expertenstandards behandeln relevante Themen in der Pflege, basieren auf dem aktuellen Wissensstand und bestimmen in Deutschland das pflegefachliche Handeln, vergleichbar der Leitlinien in der Medizin oder Zahnmedizin, wobei der Entstehungsprozess der Expertenstandards noch komplexer und umfassender ist – das ist wirklich beeindruckend! Normalerweise werden diese Standards aus der Pflege für die Pflege entwickelt. Dieser Standard war der erste echte interprofessionell entwickelt Standard, und ich bin sehr dankbar, dass ich in der Expertenarbeitsgruppe mitwirken durfte. Es war ein sehr offener und konstruktiver Austausch. Wunderbare Freundschaften und vor allem interprofessionelle Verbindungen sind entstanden, die jetzt im Nachhinein für die Implementierung des Standards in den Professionen der Pflege und auch der Zahnmedizin sehr wertvoll und wichtig sind.

Warum sollten Zahnärzte den Expertenstandard kennen?
Mit jedem Expertenstandard geht auch immer ein Ruck durch die Pflege und das jeweilige Thema bekommt eine ganz andere Aufmerksamkeit. Das bedeutet aber auch, dass die Pflege selbst und die Prüfinstanzen Heimaufsicht und Medizinischer Dienst für das Thema sensibilisiert sind. Wir als Zahnärzte werden das in einer erhöhten Nachfrage nach Schulungen, Anleitungen und zahnärztlicher Betreuung, zum Beispiel im Hinblick auf Hausbesuche spüren. Damit wir diese Aufgaben gut erfüllen können, sollten wir die Handlungsempfehlungen des Expertenstandards zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege kennen. Da ist einiges dabei, was wir im Studium nicht gelernt haben und das Thema ist ja auch in unserer Fortbildungslandschaft noch wenig präsent.

mund-pflege.net – aus der Praxis für die Praxis

mund-pflege.net ist inzwischen eine gut etablierte Plattform. Was steckt dahinter?
Der Expertenstandard beschreibt mit Worten, worauf es bei der Förderung der Mundgesundheit in der Pflege ankommt. Expertenstandards enthalten jedoch keine Abbildungen. Gerade die aber sind bei diesem Thema so wichtig, weil im Gegensatz zu anderen pflegerelevanten Themen die Mundhöhle mit vielen Zähnen oder technisch aufwendigem Zahnersatz für die Pflege bisher eine Art terra inkognita darstellt. Vor allem bestehen große Unsicher­heiten in den individuell notwendigen und angepassten Mundpflegetechniken. Früher waren pflegebedürftige Menschen häufig zahnlos und haben in der Regel Totalpro­the­sen im Mund ­getragen.Durch glückliche Umstände entstand eher zufällig zeitgleich mit dem Exper­tenstandard die Internetplattform mund-pflege.net. Der Vorteil: Die Plattform greift die aktuellen Handlungsempfehlungen des Expertenstandards auf und veranschaulicht diese anhand einer Vielzahl von Bildern, Filmen und Pflegeszenen. Die Plattform adressiert in erster Linie Pflegefachkräfte, aber es können alle Berufsgruppen, die professionell mit Fragen zur Mundgesundheit befasst sind, darauf zugreifen. Ich selbst nutze die Plattform täglich in der Praxis für Beratungen zu Zahnersatz- oder Implantat-Versorgungen, zu Knirscher- beziehungsweise Schnarcherschienen und natürlich auch für Schul­ungen und Anleitungen zur Mundpflege für pflegende Angehörige oder Pflegekräfte. Die Plattform ist für uns Zahnärzte auch deshalb sehr wertvoll, weil die meisten von uns im Studium zur Mundhygiene im Setting der Pflege wenig oder gar nichts gehört haben und wir auf der Plattform bewährte Abläufe mit digital animierten Pflegeszenen und kommentierten Anleitungen eingestellt haben. Auch, wenn es um Ideen geht wie Mundpflege bei abwehrendem Verhalten oder bei Chemo- beziehungsweise Strahlentherapie gelingen kann, wird man auf der Plattform fündig.

Fazit: Es lohnt sich

Angenommen Sie treffen auf einem Kongress eine Kollegin oder einen Kollegen und werden gefragt, warum man Alterszahnmedizin machen soll. Wie würden Sie das in einem Satz beschreiben?
Ich würde sagen, dass sich die Bedarfe der Menschen in unserer Gesellschaft des längeren Lebens verändern und unser beruflicher Alltag durch die zahnärztliche Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf bunter und abwechslungsreicher wird, sich unser Kompetenz-Horizont in menschlicher und medizinischer Sicht deutlich weitet, wir häufig ehrliche Dankbarkeit erfahren, es unglaublich viel Freude macht, immer wieder zu erleben, wie man mit kleinen Veränderungen große Wirkung erzielen kann; und auch finanziell erleidet man keinen Nachteil – im Gegenteil! Das war jetzt ein langer Satz, aber es ist einfach ein weites Feld. Packen wir es an, es lohnt sich in jeder Hinsicht!

Herr Dr. Ludwig, vielen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben.

Dr. Elmar Ludwig ist als Zahnarzt seit bald 20 Jahren in allen Settings der Pflege aktiv. Er war Mitglied der Arbeitsgruppe des Expertenstandards zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege. Als langjähriger Referent für Alterszahnheilkunde der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg und als stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses Alterszahnmedizin der Bundeszahnärztekammer hat er langjährige standespolitische Erfahrung in der Entwicklung der zahnärztlichen Betreuung von Menschen mit Unterstützungs­bedarf.

Service
Hier geht‘s zur Videoreihe im Dental Online College:

Dort finden Sie in insgesamt 13 ­Videos zu den im Interview angesprochenen Themenblöcken jede Menge Information und Tipps für den Praxisalltag, die Organisation und die Behandlung von Patienten mit Unterstützungsbedarf.

Beitragsbild: (c) Adobe Stock – Melinda Nagy

Alle anderen Bilder: (c) Dr. Elmar Ludwig

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